Benner, D. & Kemper, H. (2003). Theorie und Geschichte der Reformpädagogik (1. Aufl.). UTB. Pädagogik Erziehungswissenschaft Bd. 8239. Beltz. S. 272-286
Schleiermachers neues Verständnis des Generationenverhältnisses (S. 272–275)
Kernaussage: Schleiermacher bricht mit der traditionellen Vorstellung, dass Erwachsene genau wissen, was Kinder einmal werden sollen. Stattdessen betont er: Erwachsene sollen die „offene Bildsamkeit“ und Lernfähigkeit von Kindern anerkennen.
Schleiermacher (1826) stellt die Frage: „Was will die ältere Generation mit der jüngeren?“ – Eine Frage, die künftig immer wieder neu und gemeinsam beantwortet werden muss (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 273).
Erziehung wird zu einem Dialog zwischen den Generationen. Es geht nicht mehr um ein Weitergeben festgelegter Antworten, sondern um gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsmöglichkeiten.
Kant hierzu: Erziehung ist „das schwerste Problem“, weil sie sowohl von Einsicht abhängt als auch Einsicht hervorbringen soll (Kant zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 275).
Dialektik von Tradieren und Verändern – gesellschaftliche Seite der Erziehung (S. 275–280)
Kernaussage: Schleiermacher behandelt das Spannungsfeld zwischen der Erhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse („Bewahren“) und deren Weiterentwicklung („Verbessern“). In vormodernen Gesellschaften war Erziehung auf das Einführen in eine bestehende Ordnung ausgelegt – heute reicht das nicht mehr aus.
„Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden, dass sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist: so würde dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden“ (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 279-280).
Schleiermacher warnt also ausdrücklich davor, dass eine rein anpassende Erziehung bestehende gesellschaftliche Mängel einfach fortschreibt.
Im weiteren Verlauf formuliert er eine neue Zielsetzung für die Pädagogik:
„So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet werden, dass beides in möglichster Zusammenstimmung sei, dass die Jugend tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 280).
Bedeutung: Die Jugend soll nicht bloß angepasst, sondern auch veränderungskompetent erzogen werden. Es geht um eine Balance: Bewahrung sinnvoller Strukturen und aktive Mitgestaltung von notwendigen Veränderungen.
Dialektik von Unterstützen und Gegenwirken – individuelle Seite der Erziehung (S. 280–284)
Kernaussage: Schleiermacher unterscheidet zwei pädagogische Handlungsformen:
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Unterstützen: Förderung des Guten, der Selbstentfaltung.
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Gegenwirken: Verhinderung oder Korrektur von Fehlentwicklungen.
Er analysiert verschiedene „Modelle“ für die Verteilung dieser Handlungen auf zwei Erziehungsbereiche:
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Individuelle Entfaltung (z.B. Persönlichkeit)
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Vorbereitung auf gesellschaftliche Rollen (z.B. Bürger, Beruf)
Fazit Schleiermachers (S. 284):
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Für die individuelle Entwicklung: nur Unterstützung nötig.
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Für die gesellschaftliche Vorbereitung: beides nötig, besonders aber Gegenwirken gegen störende Einflüsse.
Ziel: Neue Balance zwischen Individuum und Gesellschaft (S. 285–286)
Schleiermacher glaubt, dass Erziehung letztlich zur Integration in eine sittliche Gesellschaft führen kann. In einer idealen Gesellschaft, so hofft er, würde Erziehung ganz „in der Sitte aufgehen“ – also ohne äußere Eingriffe funktionieren.
Aber: Die Autoren (Benner & Kemper) bewerten diese Hoffnung kritisch. Moderne Gesellschaften sind komplex, widersprüchlich, nicht durch eine einheitliche Sitte geregelt. Deshalb bleibt Schleiermachers Dialektik von Unterstützen und Gegenwirken wichtig – auch wenn seine Vorstellung von Harmonie heute unrealistisch erscheint.