Sozialisation
Erziehung vs. Sozialisation
Vergleichs-kategorien
Definition
Einordnung
Akteure
Beispiele
Prozess-beschreibung
Ziel(e)
Zeitliche Eingrenzung
Erziehung
"Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychologischen Dispositionen anderer Menschen [...] dauerhaft zu verbessern oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten".
(Brezinka, 1978, S.45; zit. nach Lenzen, 1999, S.169)
Erziehung als Teil der Sozialisation
"Sozialmachung des Menschen" (vgl. Gudjons, 2003, S.180)
Beispielsweise: Erziehungsberechtigte, Lehrer etc. - menschliche Individuen mit einer klaren Rollenverteilung (Kompetenzgefälle der Akteure)
Lehrkraft: Bewusste Beeinflussung der Verhaltensdispositionen der zu erziehenden Person - also ein zielgerichteter Prozess
intentionaler, planvoller und bewusster Prozess
Verfolgt konkrete und explizite Ziele wie die Beeinflussung der Persönlichkeit. Jedoch ist hierbei zu betonen, dass diese Form der Einflussnahme stets Versuchscharakter hat. Es gibt zwar ein angestrebtes Ziel, aber keine Garantie dieses auch zu erreichen.
Beispielhafte Zielvorstellung sind Emanzipation und Eigenverantwortlichkeit
Wird häufig als beschränkt auf Kindheit und Jugendphase betrachtet.
Sozialisation
"Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt, relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen, auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen."
(Hurrelmann, Grundmann, Walper zit. nach Gudjons und Traub, 2020, S.60)
Sozialisation wird in diesem Sinnzusammenhang als Oberbegriff verstanden.
"Sozialwerdung des Menschen" (vgl. Gudjons, 2003, S.180)
Beispielsweise: Umwelt, Familie, Peers etc.
(Die Gesamtheit sozialer und materieller Umweltbedingungen)
Die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums wird durch die Erfahrungen mit der Umwelt beeinflusst
oftmals beiläufig, unbewusst und nicht gesteuert oder kontrolliert
Generierung individueller Handlungsfähigkeit und Beitrag zur Einbindung des Individuums in gesellschaftliche Strukturen. Anders als Erziehung hat die Sozialisation kein explizites Ziel, dennoch hat sie essentielle Funktionen, die jedoch nicht geplant sind.
Funktion: Stabilisierung und Reproduktion der Gesellschaft
lebenslanger Prozess mit spezifischen Anforderungen für jede Altersgruppe
(primäre, sekundäre und gegebenenfalls tertiäre Phasen abhängig vom Lebensalter)
Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt. 159–162
Sozialisation ist nicht bloße Anpassung - sondern eine "dynamische Person-Umwelt-Beziehung" (Hurrelmann/Grundmann/Walper zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
Definition
Es gibt nicht DIE Sozialisation - sondern "sozialisationstheoretische Fragestellungen" (Hurrelmann/Ulich zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
"Sozialisation ist ein begriffliches Konstrukt, ein Bündel von theoretischen Fragen und Problemstellungen, das sich in analytischer Absicht mit einem nicht unmittelbar beobachtbaren Ausschnitt der Realität beschäftigt" (Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
Sozialisationsebenen nach Hurrelmann (1988)
Der deutsche Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann (geb. 1944) unterscheidet drei Ebenen der Sozialisation:
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Primäre Sozialisation
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Findet in der frühen Kindheit, vor allem in der Familie statt.
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Kinder lernen z. B. Grundverhalten, Sprache, erste Regeln.
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Sekundäre Sozialisation
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Passiert z. B. in Kita, Schule, Freundeskreis.
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Kinder lernen neue Rollen kennen, etwa als SchülerIn oder Teammitglied.
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Tertiäre Sozialisation
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Betrifft das Erwachsenenalter, z. B. durch Beruf, Medien, Politik.
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Menschen müssen sich immer wieder an neue Lebensphasen anpassen.
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Strukturelle Bedingungen der Sozialisation
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Bestimmte gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen die Sozialisation stark, z. B.:
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Soziale Herkunft (z. B. arm oder reich)
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Bildungschancen
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Geschlecht
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Medien
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Kulturelle Normen
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Menschen haben nicht alle dieselben Chancen – soziale Ungleichheit wirkt sich auf Sozialisation aus.
Struktur der Sozialisationsbedingungen
(Tillmann 2000/2010
Grundidee:
Das Modell beschreibt, wie die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums (das „Subjekt“) durch verschiedene gesellschaftliche Ebenen beeinflusst wird – und umgekehrt. Es verdeutlicht, dass Sozialisation nicht linear oder einseitig, sondern vermittelt und wechselseitig stattfindet.
Vier Ebenen des Modells (von außen nach innen):
(4) Gesamtgesellschaft (Ebene 4):
Dazu gehören grundlegende gesellschaftliche Strukturen – etwa die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Ordnung. Sie schaffen den übergeordneten Rahmen für alle Sozialisationseinflüsse.
(3) Institutionen (Ebene 3):
Diese gesellschaftlichen Einrichtungen (z. B. Schulen, Medien, Kirchen, Militär, Betriebe) vermitteln die Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft an die Individuen. Sie wirken als Filter zwischen Gesellschaft und Alltag.
(2) Interaktionen und Tätigkeiten (Ebene 2):
Dies sind konkrete zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Handlungen – z. B. Eltern-Kind-Kommunikation, Unterricht, Freundschaften. Hier findet direkte persönliche Sozialisation statt.
(1) Subjekt (Ebene 1):
Das Individuum, das durch Erfahrungen, Wissen, emotionale Muster, kognitive Fähigkeiten usw. seine Persönlichkeit formt. Es ist nicht passiv, sondern verarbeitet aktiv die Einflüsse der Umwelt.
Wechselseitigkeit:
Die Pfeile im Modell zeigen, dass jede Ebene auf die jeweils andere zurückwirken kann:
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Nicht nur „die Gesellschaft formt das Subjekt“,
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sondern das Subjekt kann durch Handlungen, Entscheidungen, Widerstand oder Innovation auch Gesellschaft, Institutionen und Interaktionen beeinflussen.
Fazit zum Modell:
Das Modell veranschaulicht die komplexe Vermittlungsstruktur von Sozialisation. Es unterstreicht, dass Sozialisation nicht als bloße Anpassung zu verstehen ist, sondern als dynamischer Prozess zwischen individueller Aktivität und sozialer Umwelt.
Verständnis von Sozialisation und Erziehung
Begriffliche Abgrenzung:
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Sozialisation ist ein weiter gefasster Begriff. Er bezeichnet alle Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen – ob beabsichtigt oder nicht, bewusst oder unbewusst.
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Erziehung ist ein Teilbereich der Sozialisation. Sie ist gekennzeichnet durch gezielte, geplante, bewusste Handlungen mit dem Ziel, bestimmte Entwicklungen zu fördern.
Zentrale Unterscheidung (vgl. S. 162):
„Während der Sozialisationsbegriff ein breites Interaktionsgeschehen beinhaltet, werden mit Erziehung (nur) ‚die Handlungen und Maßnahmen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluss zu nehmen, um sie nach bestimmten Wertmaßstäben zu fördern … also die bewussten und geplanten Einflussnahmen‘“
(Hurrelmann 1998, 14, zitiert nach Gudjons & Traub, 2020, S. 162)
Zusammenhang:
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Jede Erziehung ist Teil von Sozialisation.
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Aber nicht jede Sozialisation ist Erziehung.
(z. B. wirkt das Verhalten von Peers oder Medien oft stark, aber unbeabsichtigt)
Hurrelmann, K., Erhart, M. & Ravens-Sieberer, U. (2018). Sozialisation. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt & S. R. Buch (Hg.), Beltz Psychologie 2018. Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5. Aufl., S. 789–799). Beltz.
»Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung und der körperlichen und psychischen Konstitution (›innere Realität‹) versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen– der sozialen und materiellen Umwelt (›äußere Realität‹)– weiterentwickelt«
(Hurrelmann & Bauer, 2015, 18)
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Wichtige Unterscheidung: Sozialisation ≠ Erziehung, aber sie überschneiden sich.
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Ziel: Entwicklung einer Ich-Identität und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit.
Zentrale Theorien und Modelle
a) Soziologischer Zugang
Émile Durkheim (1858–1917) versteht Sozialisation als den Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen und Werte. Damit ein Individuum Teil der Gesellschaft werden kann, muss es deren grundlegende Regeln und Moralvorstellungen annehmen. Für Durkheim existiert die Gesellschaft als eine überindividuelle Kraft, die das Denken und Handeln des Einzelnen prägt - etwa durch Institutionen wie Schule, Familie oder Religion. Ziel der Sozialisation ist es, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und die Integration des Individuums in die Gesellschaft zu gewährleisten.
Talcott Parsons (1902–1979) griff diese Idee in seinem Werk „The Social System“ (1951) auf, in dem er Sozialisation als den Erwerb sozialer Rollen beschreibt. Menschen lernen im Laufe ihres Lebens, wie sie sich in bestimmten gesellschaftlichen Rollen (etwa als Schülerin, Elternteil oder Arbeitnehmerin) zu verhalten haben. Sozialisation bedeutet dabei, gesellschaftlich erwünschte Rollen zu verinnerlichen und entsprechende Handlungsmuster zu entwickeln. So bleibt das soziale System stabil und handlungsfähig.
b) Psychoanalytischer Zugang
Sigmund Freud (1856–1939) betrachtet Sozialisation als einen innerpsychischen Konflikt zwischen Triebbedürfnissen des Individuums und gesellschaftlichen Anforderungen. Seine berühmte Strukturtheorie der Persönlichkeit, die sich aus Es, Ich und Über-Ich zusammensetzt, wurde vor allem in den 1920er Jahren entwickelt. Das Es steht für unbewusste Triebe, das Über-Ich für verinnerlichte gesellschaftliche Normen, und das Ich vermittelt zwischen beiden unter Berücksichtigung der Realität. Die Sozialisation beginnt bereits in der frühen Kindheit, wo Kinder durch elterliche Erziehung Normen aufnehmen und internalisieren – sie bilden ein moralisches Gewissen, das sie zeitlebens beeinflusst.
c) Lerntheoretischer Zugang
Albert Bandura (1925–2021) entwickelte seine Theorie des Modelllernens in den 1960er und 1970er Jahren, insbesondere in den Werken „Social Learning and Personality Development“ (1963) und „Social Learning Theory“ (1977). Für Bandura erfolgt Sozialisation durch Beobachtung und Nachahmung. Menschen lernen nicht nur durch eigenes Handeln, sondern vor allem durch das Beobachten von Vorbildern (sogenannten Modellen). Wenn ein bestimmtes Verhalten bei anderen belohnt oder anerkannt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten übernommen wird. So erlernen Kinder und Jugendliche soziale Verhaltensweisen, Einstellungen und Werte durch Vorbilder in Familie, Schule, Medien oder Peer-Groups.
d) Interaktionistischer Zugang
George Herbert Mead (1863–1931) stellte mit seinem posthum veröffentlichten Werk „Mind, Self and Society“ (1934) einen interaktionistischen Zugang zur Sozialisation vor. Nach Mead entsteht das „Self“ (Selbstbild) des Menschen durch soziale Interaktionen. Identität entwickelt sich nicht isoliert, sondern im Austausch mit anderen – z. B. in der Familie, in der Schule oder im Freundeskreis. Das Selbst besteht aus zwei Teilen: dem „I“, das für die spontane und kreative Seite steht, und dem „Me“, das die Perspektive der Gesellschaft widerspiegelt. Zentral für die Entwicklung des Selbst ist die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, die Kinder z. B. beim Rollenspiel erlernen. Sozialisation ist damit ein fortlaufender, dialogischer Prozess der Selbstentwicklung.
e) Strukturgenetischer Ansatz
Jean Piaget (1896–1980) sah Sozialisation als einen Prozess der kognitiven Entwicklung, den er über Jahrzehnte erforschte, insbesondere in „The Origins of Intelligence in Children“ (1936, engl. 1952). Kinder sind für ihn keine passiven Empfänger von Wissen, sondern gestalten ihre Entwicklung aktiv durch die Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Dabei durchlaufen sie aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen des Denkens – von der sensomotorischen Phase bis zum formal-operationalen Denken in der Jugend. Sozialisation bedeutet hier, dass sich durch diese kognitiven Strukturen die Fähigkeit zu sozialem Handeln entwickelt.
Lawrence Kohlberg (1927–1987), ein Schüler Piagets, ergänzte diesen Ansatz um ein Stufenmodell der Moralentwicklung, das er in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlichte, u. a. in „Essays on Moral Development“ (1981). Kohlberg geht davon aus, dass moralisches Urteilen nicht angeboren ist, sondern sich in sechs aufeinander aufbauenden Stufen entwickelt – von der Orientierung an Strafe und Gehorsam bis hin zu einer an universellen ethischen Prinzipien ausgerichteten Moral. Sozialisation umfasst in dieser Sichtweise auch die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit als Teil der Persönlichkeitsbildung.
f) Theorie der produktiven Realitätsverarbeitung
Klaus Hurrelmann (*1944) entwickelte die Theorie der produktiven Realitätsverarbeitung erstmals in den 1980er Jahren und hat sie seither kontinuierlich weiterentwickelt, z. B. in „Einführung in die Sozialisationstheorie“ (1988, aktualisiert 2018). Er beschreibt Sozialisation als einen aktiven Prozess, in dem Individuen ihre innere Realität (also ihre körperlichen und psychischen Voraussetzungen) mit der äußeren Realität (soziale Umwelt, Erwartungen, Normen) in Einklang bringen müssen. Dabei ist das Ziel die Ausbildung einer Ich-Identität, die es ermöglicht, handlungsfähig und stabil im sozialen Leben zu agieren. Wichtig ist dabei das Zusammenspiel verschiedener Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, Peer-Group und Medien. Zwar ist Sozialisation lebenslang, doch Hurrelmann betont die prägende Bedeutung der Kindheit und Jugend, in der besonders viele Weichen für die Identitätsentwicklung gestellt werden.
Sozialisation und Entwicklung
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Sozialisation beeinflusst Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung.
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Besondere Bedeutung hat sie in Kindheit und Jugend.
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Entwicklungskrisen können entstehen, wenn Anforderungen und Bewältigungsressourcen nicht im Gleichgewicht sind (z. B. Pubertät).
Die Vielzahl der Theorien ergibt sich daraus, dass Sozialisation ein sehr komplexer Prozess ist, der aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Jeder Zugang betont andere Aspekte davon – je nach wissenschaftlichem Hintergrund der Forschenden. Hier ist eine kurze Übersicht, warum es diese Vielfalt gibt:
Warum verschiedene Sozialisationszugänge?
Zugang
Soziologisch (z.B. Durkheim, Parsons)
Psychoanalytisch (Freud)
Lerntheoretisch (Bandura)
Interaktionistisch (Mead)
Strukturgenetisch (Piaget, Kohlberg)
Sozialisationstheorie von Hurrelmann
Was wird betont?
Gesellschaftliche Strukturen, Normen und Rollen
Innere Konflikte, Triebe, psychische Entwicklung
Lernen durch Nachahmung
Soziale Interaktion, Rollenübernahme
Kognitive und moralische Entwicklung
Zusammenspiel von innerer und äußerer Realität
Warum wichtig?
Zeigt, wie stark Gesellschaft die Menschen formt
Verdeutlicht, wie frühkindliche Erfahrungen prägen
Erklärt, wie Verhalten durch Vorbilder entsteht
Zeigt, wie "Selbst" im Austausch mit anderen entsteht
Macht klar, dass Sozialisation auch Denkleistungen braucht
Verbindet viele Perspektiven zu einem Gesamtmodell