Burkard, F.-P. & Weiss, A. (2008). Dtv-Atlas Pädagogik. dtv Bd. 3327. Deutscher Taschenbuch Verlag. S. 64-67

John Locke:

Erziehung als Anleitung zur Selbstständigkeit

John Locke (1632–1704), ein bedeutender Philosoph der Aufklärung, sieht den Menschen als ein Wesen, das durch Erfahrung geformt wird. In seiner Theorie ist der Verstand des Kindes zunächst wie ein weißes Blatt („tabula rasa“), auf dem sich erst durch Sinneseindrücke und Beobachtungen Vorstellungen bilden. Lernen geschieht also nicht durch angeborenes Wissen, sondern durch das, was das Kind erlebt und verarbeitet (vgl. Burkard, 2008, S. 64).

Die wichtigste Aufgabe der Erziehung ist es daher, gute Erfahrungen zu ermöglichen. Denn: Wenn alles, was das Kind wird, auf dem basiert, was es erlebt, dann muss man dafür sorgen, dass diese Erlebnisse sinnvoll und förderlich sind. So bekommt die Erziehung nach Locke einen enormen Einfluss: Sie kann die geistige und charakterliche Entwicklung des Kindes gezielt formen.

Doch Locke denkt weiter. Er erkennt, dass Kinder zwar keine festen Ideen, wohl aber unterschiedliche Anlagen und Charakterzüge mitbringen. Diese sollen vom Lehrer erkannt und so gefördert oder gelenkt werden, dass eine freie und selbstständige Persönlichkeit entsteht (vgl. Burkard, 2008, S. 64). Besonders betont Locke die Rolle des Hauslehrers, der individuell auf das Kind eingehen kann. Lernen soll freudvoll und möglichst ohne Zwang stattfinden. Der natürliche Spieltrieb des Kindes soll didaktisch genutzt werden, sodass das Kind aus eigenem Antrieb lernen möchte. Bücherwissen allein reicht nicht aus – der Unterricht soll praktisch und lebensnah sein (vgl. Burkard, 2008, S. 65). In seinem Werk Einige Gedanken über die Erziehung (1693) beschreibt Locke das Ideal des Gentleman: ein Mensch, der tugendhaft, klug, gebildet und gesellschaftlich gewandt ist. Wissen steht dabei nicht an erster Stelle. Viel wichtiger sind Verhaltenssicherheit, Selbstständigkeit und gesunder Menschenverstand, um sich später berufliches Wissen selbst aneignen zu können (vgl. Burkard,  2008, S. 65).

Lockes Einfluss wirkt bis heute nach – sein Ideal des durch Erziehung gebildeten, selbstständigen Menschen spiegelt sich in vielen modernen pädagogischen Ansätzen wider.

Jean-Jacques Rousseau

Wachsen lassen statt erziehen

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) denkt Erziehung radikal neu. Für ihn ist der Mensch von Natur aus gut, frei und selbstgenügsam – erst die Zivilisation mit ihrer Ungleichheit, ihrem Eigentum und ihrer Konkurrenz macht ihn schlecht und unglücklich. In seinem Diskurs über die Ungleichheit beschreibt Rousseau, wie der ursprünglich freie Mensch im „Naturzustand“ lebt: unabhängig, ohne Besitz, in Harmonie mit sich selbst. Erst mit dem Zusammenschluss zur Gesellschaft und dem Aufkommen des Privateigentums entsteht Abhängigkeit, Neid und Ungleichheit (vgl. Burkard,  2008, S. 65).

Aber: Ein Zurück zur Natur ist nicht möglich. Deshalb sieht Rousseau zwei Wege, wie der Mensch wieder zu seiner ursprünglichen Freiheit finden kann:

  1. Staat: Durch (bspw.) einen gerechten Gesellschaftsvertrag, in dem alle Menschen gleich sind.

  2. Erziehung: Durch eine naturnahe Erziehung, die das Kind nicht verformt, sondern sich frei entfalten lässt (vgl. Burkard, 2008, S. 65).

Seine revolutionäre Idee: Das Kind ist nicht ein unfertiger Erwachsener, sondern ein eigenständiges Wesen mit eigenen Entwicklungsbedürfnissen. Die Erziehung muss sich an den Entwicklungsstufen des Kindes orientieren – sie soll begleiten, nicht formen.

In seinem Hauptwerk Emile oder Über die Erziehung (1762) zeigt er in fünf Büchern, wie das Kind Emile von Geburt bis ins Erwachsenenalter erzogen wird. Die frühe Kindheit (bis ca. 12 Jahre) steht im Zeichen der sogenannten „negativen Erziehung“. Das heißt: Das Kind soll von schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen ferngehalten und nicht künstlich belehrt werden. Es soll durch eigene Erfahrungen in der Natur lernen. Die Sinne werden geschult, bevor der Verstand mit abstrakten Inhalten gefüttert wird (vgl. Burkard, 2008, S. 66).

Der Erzieher bleibt im Hintergrund und sorgt unauffällig dafür, dass das Kind mit den Dingen in Berührung kommt, die es für seine Entwicklung braucht. So wird die Kindheit nicht zur Vorbereitung auf das Erwachsensein degradiert, sondern als eigene wertvolle Lebensphase ernst genommen (vgl. Burkard, 2008, S. 67). Mit Beginn der Pubertät kommt eine neue Phase: Emile wird in die Gesellschaft eingeführt und bekommt nun positive Bildung: Geschichte, Philosophie, Religion. Seine Gefühlswelt soll reifen, bevor er eine Partnerschaft eingeht. Rousseau sieht in der verzögerten sexuellen Erfüllung eine Kraft, die zur sozialen und geistigen Reifung beiträgt (vgl. Burkard,  2008, S. 67).

Auch wenn Rousseaus Geschlechterbild (z. B. bei der Figur „Sophie“) traditionell bleibt, ist sein Verdienst groß: Er hat die Kindheit als eigenständige Entwicklungszeit entdeckt – ein Gedanke, von dem alle moderne Pädagogik geprägt ist.