Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt.

Grundlegendes zum pädagogischen Erziehungsbegriff


Zunächst einmal soll an dieser Stelle klar sein: Es gibt keine allgemeingültige Definition des Erziehungsbegriffs. Es gibt sehr viele, teils gegensätzliche Auffassungen davon, was Erziehung ist. Eine einheitliche Theorie für alles zu finden, ist heute kaum möglich.

Kurze Weiterführung hierzu: Was ist mit dem "Erziehungsbegriff" gemeint – und warum ist er so kompliziert?

 

  1. Definitionen von "Erziehung" sind sehr allgemein (im weiten Sinne) und deshalb oft abstrakt, vieldeutig und nicht einfach zu greifen.

  2. Der Erziehungsbegriff ist kein "Realbegriff":

    • Das heißt: Er beschreibt nicht einfach ein messbares, beobachtbares Phänomen aus der empirischen Erziehungswissenschaft.

  3. Er ist auch kein "Wesensbegriff":

    • Also: Es geht nicht darum, das "Wesen" oder die wahre Natur von Erziehung intuitiv zu erfassen, wie es manche philosophischen Richtungen versuchen.

  4. Sondern: Der Begriff "Erziehung" ist ein Deutungsbegriff oder Interpretationskonzept:

    • Das bedeutet: "Erziehung" ist ein theoretisches Konstrukt, das uns hilft, eine komplexe Wirklichkeit zu deuten, also zu interpretieren.

  5. Laut dem Philosophen Kratochwil entsteht ein solcher Begriff durch die "Kontraktion von Erfahrungen":

    • Das heißt: Viele einzelne Erfahrungen und Beobachtungen werden zusammengezogen (kontrahiert) und in einem Begriff wie "Erziehung" gebündelt – immer unter einem bestimmten theoretischen Blickwinkel oder Deutungshorizont.

  6. Das führt zum sogenannten "Referenzproblem":

    • Man muss sich fragen: Worauf bezieht sich der Begriff "Erziehung" eigentlich genau?

    • Das kann je nach Theorie oder wissenschaftlichem Ansatz unterschiedlich sein. In einem psychologischen Kontext meint "Erziehung" vielleicht etwas anderes als in einem philosophischen oder soziologischen.

  7. Wichtig: Der Begriff "Erziehung" bezieht sich nicht einfach auf eine bestimmte Sache, sondern:

    • Er setzt die Kriterien selbst, mit denen wir entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Handlung als "Erziehung" gilt oder nicht.

 


"Erziehung" ist kein klar umrissener, messbarer Vorgang, sondern ein theoretischer Begriff, den wir brauchen, um bestimmte komplexe menschliche Phänomene (z. B. Lernen, Anleitung, Einflussnahme) zu verstehen und zu deuten. Was genau unter "Erziehung" fällt, hängt vom jeweiligen theoretischen Standpunkt ab.

Zwei Grundverständnisse/Bilder von Erziehung


Technizismus: Erziehung wie Handwerk → bewusstes "Herstellen".

 

Erziehung als ein "herstellendes Machen, analog zur handwerklichen Produktion eines Gegenstandes", der Erzieher gleicht dem Handwerker, der "einen angestrebten Zweck mit Hilfe bestimmter Mittel und Methoden handelnd anstrebt".

 

 

Naturalismus: Erziehung wie Gartenpflege → unterstützendes "Wachsenlassen".

 

Das Kind entfaltet sich auf eine mehr oder weniger natürliche Art selbst, "analog zum organischen Wachstum", wie eine Pflanze, "Erziehen heißt hier begleitendes Wachsenlassen".Der Erzieher gleicht dem Gärtner (oder Bauern), "der pflegend und schützend bei einem Entwicklungsprozess hilft, der – als ein natürlicher – von selbst geschieht".

(Gudjons, H. und Traub, S., 2020, S. 192)

➔ Theodor Litt (1880-1962):

Diese beiden Pole (also "Führen" und "Wachsenlassen" dürfen laut Litt nicht getrennt, sondern müssen in Balance gedacht werden: Erziehung gelingt, wenn sie sowohl leitet als auch Freiheit zur Entwicklung lässt (Litt, 1927).

(Gudjons, H. und Traub, S., 2020, S. 193)

 

Definitionen des Erziehungsbegriffs


Kant (1724–1804)

Immanuel Kant hat sich in seiner Schrift "Über Pädagogik" (posthum veröffentlicht 1803) grundlegend mit dem Thema Erziehung befasst. Seine Auffassung ist bis heute einflussreich. 

Kant sieht Erziehung als ein zentrales Mittel zur Menschwerdung des Menschen – denn:

„Der Mensch kann nur zum Menschen werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht …“

(Kant zit. nach Gudjons und Traub, 2020, S.187)

Für Kant ist der Mensch das einzige Wesen, das erzogen werden muss, weil er nicht allein durch Instinkte geleitet wird, sondern durch Vernunft erzogen werden soll.

Ziel der Erziehung laut Kant:

Die Entwicklung des Menschen zu einem freien, selbst bestimmten und vernunftgeleiteten Wesen, das zugleich Teil der Gemeinschaft ist.

 

 

Mehr zu Kants Erziehungstheorie findest du hier :)

PS: Dort findest du auch weitere Erziehungstheorien (wie die von Locke oder Rousseau) - in einer ausführlicheren Version :)


Lockes Erziehungsbegriff – in Kürze:

John Locke gilt als einer der Väter des Empirismus und vertritt die Auffassung, dass der Mensch bei Geburt ein „tabula rasa“ (leeres Blatt) ist. Alles Wissen und alle Vorstellungen entstehen durch Erfahrung, besonders über die Sinneswahrnehmung – das ist der sogenannte Sensualismus.

„Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war.“

Besonderheit:

Locke denkt Erziehung individualistisch – nicht im Sinne einer allgemeinen Theorie, sondern als Anleitung für eine personenzentrierte, lebensnahe Erziehungspraxis.


Brezinkas Definition von Erziehung (1978)

"Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychologischen Dispositionen anderer Menschen [...] dauerhaft zu verbessern oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten".

(Brezinka, 1978, S.45; zit. nach Lenzen, 1999, S.169)

 

Diese Definition enthält fünf Bestimmungsmerkmale:

  1. Die Erziehende Person als Mensch
  2. Die Unvollkommenheit (das Misslingen) erzieherischer Handlungen
  3. Soziale Handlungen -> zielgerichtetes, zweckbestimmtes Verhalten, welches an eine Person gerichtet ist (sozial)
  4. Psychische Dispositionen = relativ dauerhafte Bereitschaften zum Erleben und Verhalten (also nicht flüchtig)
  5. Verbessern oder erhalten = einem vorgestellten Soll-Zustand wird vom erzieherisch Handelnden Wert zugeschrieben (den die Wissenschaft allerdings nicht bestimmen kann = wissenschaftlicher Wertrelativismus).

Kritik:

  • Zu allgemeiner Begriff - Ein Verständnis von Erziehung als bloßer Versuch ist wenig anschlussfähig für empirische Untersuchungen zur Aufdeckung kausaler Zusammenhänge.
  • Reduziert Erziehung auf bloße Dispositionsänderung - Die Veränderung psychischer Dispositionen ist ein sehr genereller und weit verbreiteter Prozess, der häufig auch von Erziehung entkoppelt ist (z.B. Werbung, Wahlkampf). Die Übergänge zwischen Erziehung und anderen, potentiell manipulierenden Formen der Dispositionsbeeinflussung bleibt also anhand der Definition sehr diffus.
  • Lernende erscheinen zu passiv - Die aktive Rolle des Zöglings im Erziehungsprozess wird zugunsten einer einseitigen Wirkrichtung vom Subjekt des Erziehenden zum Objekt des Zöglings vernachlässigt.
  • Erziehung wirkt "geschichtslos" - Erziehung nach Brezinka vernachlässigt die Rolle des historischen und gesellschaftlichen Kontexts für das erzieherische Handeln.

Was schlägt Heid vor?

Absicht und Erfolg sollen zusammen gedacht werden!
Nur wenn beides zusammenkommt, liegt „richtige“ Erziehung vor:

  • Der Erzieher beabsichtigt eine Veränderung und
  • die Veränderung tritt tatsächlich ein, und zwar so, wie beabsichtigt, nicht zufällig.

Erziehung wird so zu einem:

  • rationalen (vernünftigen),
  • planbaren (vorausdenkbaren) und
  • verantwortbaren (ethisch bewussten)
    Handeln.

➔ Heid nennt das einen handlungstheoretischen Erziehungsbegriff.

 

Erziehung wird hier nicht mehr als bloßer Versuch verstanden, sondern schließt explizit auch die Wirkung auf den Zögling ein, die mit der Intention übereinstimmen muss, um von Erziehung sprechen zu können. Damit wird Erziehung leichter operationalisierbar, sodass sich dieses Verständnis von Erziehung als Anknüpfungspunkt für empirische Untersuchungen eignet.

(Gudjons, H. & Traub, S., 2020, S. 197)

Kriterien anhand derer sich verschiedene Konzepte von Erziehung systematisieren lassen

Brezinka unterscheidet bei der Analyse  von Erziehungsbegriffen folgende
vier Konzeptualisierungsdimensionen

(Brezinka zit. nach Gudjons, H. & Traub, S., 2020, S. 193f.)

Deskriptiv vs. (Programmatisch-)Präskriptiv 


Deskriptiv

Präskriptiv

Beschreibend: Erziehung wird wertfrei beschrieben, so wie sie tatsächlich geschieht. 

 

Fokus auf Analyse und Beschreibung.

Vorschreibend: Erziehung wird mit Zielvorgaben verbunden: Wie soll sie idealerweise sein?

 

Fokus auf Normen, Werte und Soll Vorstellungen.

Handlungs- vs. Geschehensbegriff


Handlung

Geschehen

Geplante und bewusste Einflussnahme (z.B. Erziehung durch Eltern, Schule).

 

 

Erziehung geplant, um bestimmte Ziele zu erreichen.

Unbeabsichtigte Einflüsse, die die Persönlichkeit formen (z.B. durch Medien, soziales Umfeld).

 

Erziehung passiert als Teil sozialer Prozesse, oft ohne bewusste Steuerung. 

Prozessbedeutung vs. Produktbedeutung


Prozess

Produkt

Erziehung als dauerhafter Vorgang (Lernen, Entwicklung)

 

Fokus liegt auf dem Weg, dem Ablauf.

 

Erziehung als Resultat (z.B. eine gefestigte Haltung oder ein bestimmter Charakter).

 

Fokus liegt auf dem Endzustand, dem erreichten Ziel.

Absichtsbegriff vs. Wirkungsbegriff


Absicht 

Wirkung

Es zählt die Intention des Erziehenden, unabhängig vom tatsächlichen Erfolg.

 

Beispiel: Eltern bemühen sich, dem Kind Verantwortungsbewusstsein beizubringen, egal ob es gelingt.

Nur tatsächlich eingetretene Veränderung gilt als Erziehung.

 

Beispiel: Ein Kind entwickelt Verantwortungsbewusstsein - unabhängig davon, ob es so geplant war.

Kurze Einordnung Brezinkas Erziehungsverständnisses


Deskriptiv versus Präskriptiv

Bei Brezinkas Erziehungsverständnis handelt es sich um einen klassisch deskriptiven Erziehungsbegriff, der eine rein beschreibende Funktion erfüllt und eine Abgrenzung von anderen sozialen Prozessen vornimmt. Wertende Aussagen wie Vorschläge für geeignete Erziehungspraktiken und wünschenswerte Ziele werden nicht getätigt.

 

Geschehens- versus Handlungsbegriff

Als intentionales, zielorientiertes Handeln verweigert sich Brezinka einer Auslegung als bloßes Geschehen und lässt sich damit eindeutig als Handlungsbegriff identifizieren - nicht nur, weil der Begriff der Handlung sich im Wortlaut der Definition wiederfindet.

 

Prozessbegriff versus Produktbegriff

Brezinkas Erziehungsverständnis lässt sich als Prozessbegriff klassifizieren: im Fokus stehen Absicht und Handeln des Erziehenden, nicht aber die Wirkung, die laut Brezinka selbst nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit auf das erzieherische Handeln zurückgeführt werden kann und sich damit als Definitionskriterium ausschließt.

 

Absichtsbegriff versus Wirkungsbegriff

Brezinkas Erziehungsbegriff zeichnet sich durch die Kriterien des Absichtsbegriffs aus. Erziehung hat stets Versuchscharakter und kann auch diesen Versuch beschränkt bleiben, ohne die angestrebte Wirkung zu entfalten. Beobachtbare Effekte eindeutig auf Erziehung zurückzuführen, ist laut Brezinka nicht möglich.

 

Warum ist der Mensch auf Erziehung angewiesen?

  • Mensch als Mängelwesen (Gehlen): instinktarm, auf Kultur und Lernen angewiesen.
  • Physiologische Frühgeburt (Portmann): Mensch braucht längere Reifezeit nach Geburt.
  • Weltoffenheit (Uexküll, Scheler, Plessner): Mensch gestaltet aktiv seine Umwelt.
  • Enkulturation: Hineinwachsen in Sprache, Werte, Kunst, Religion, Recht etc.
  • Zentrale Widersprüchlichkeit:
    Abhängigkeit in der Kindheit soll später Autonomie ermöglichen.

Klassiker und ihre Aktualität – Reflexionen über Theorie, Geschichte und Gegenwart


Wenn im erziehungswissenschaftlichen Diskurs von der Aktualität klassischer Theorien gesprochen wird, ist es unverzichtbar, die Gegenwart selbst zu beschreiben und zu kontextualisieren. Aktualität ist keine absolute Kategorie, sondern verweist immer auf einen spezifischen historischen Moment. So stellt sich beispielsweise die Frage: Welche Gegenwart ist gemeint – die direkte Zeit nach dem sogenannten PISA-Schock (2000), in der das deutsche Bildungssystem unter großem Reformdruck stand? Oder sprechen wir von der heutigen Gegenwart im Zeichen von Globalisierung, Digitalisierung und sozialer Fragmentierung? Die Bezugnahme auf die Gegenwart muss also immer kontextualisiert erfolgen, um die Relevanz klassischer pädagogischer Konzepte nachvollziehbar zu machen.

In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, den Begriff des „Klassikers“ kritisch zu beleuchten. Dabei lassen sich verschiedene Formen unterscheiden: Der zeitlose Klassiker, etwa Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, wird unabhängig von Epochen als bedeutend wahrgenommen. Der klassifizierte Klassiker verweist auf eine historische Epoche, z. B. die literarische Klassik um Goethe und Schiller. Und der qualifizierte Klassiker zeichnet sich durch breite Rezeption, zahlreiche Auflagen oder hohe gesellschaftliche Wirksamkeit aus. Diese Kategorisierungen helfen, den Status pädagogischer Denker, wie Rousseau, Kant oder Comenius, nicht nur historisch, sondern auch funktional im Bildungsdiskurs zu verorten.

Gleichzeitig ist Vorsicht geboten: Die pädagogische Rezeption von Klassikern verläuft nicht selten unkritisch. Pädagogische TheoretikerInnen werden zu „Säulenheiligen“ stilisiert, während blinde Flecken, etwa problematische biografische Aspekte oder ideologische Positionierungen, übersehen werden. So ist etwa Maria Montessori zwar für ihre reformpädagogischen Ansätze bekannt, ihre Befürwortung der Euthanasie jedoch lange Zeit weitgehend ignoriert worden. Die Gefahr liegt in einem verengten, heroisierten Bild, das mehr einem pädagogischen Heldenepos als einer wissenschaftlich-kritischen Theoriegeschichte gleicht.

In der Theoriediskussion der Erziehungswissenschaft gilt es, klar zwischen verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. Die Objekttheorie befasst sich mit konkreten pädagogischen Inhalten und Sachverhalten, etwa der Frage: Wie erzieht man zur Mündigkeit? Die Diskurstheorie betrachtet, wie pädagogisches Wissen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten entsteht und sich verändert. Die Metatheorie hingegen reflektiert über Theorien selbst – sie ordnet, vergleicht, kritisiert und beschreibt die theoretischen Konstrukte der Disziplin. Diese Unterscheidungen sind wichtig, um die jeweilige Relevanz eines Klassikers im wissenschaftlichen Diskurs angemessen einschätzen zu können.

Ein prominentes Beispiel eines pädagogischen Klassikers ist Johann Amos Comenius, dessen Denken eng mit einer vormodernen, theozentrischen Weltanschauung verbunden ist. Für Comenius war Erziehung ein Weg zurück zu Gott. Die berühmte Formel omnes, omnia, omnino – alle, alles, allumfassend lehren – bildet die Grundlage seiner Idee von Allgemeinbildung. Gerade dieser Universalitätsanspruch macht seine Konzeption bis heute relevant, denn weltweite Bildungsdurchlässigkeit und Chancengleichheit sind auch im 21. Jahrhundert noch nicht erreicht.

Auch Jean-Jacques Rousseau wird häufig als Klassiker geführt, doch sein Ansatz weicht in entscheidenden Punkten von systematischer Bildungstheorie ab. Die Erziehung bei Rousseau ist reaktiv, nicht proaktiv. Der Erzieher soll sich zurückhalten und lediglich das ermöglichen, was das Kind als sinnvoll erachtet. Rousseaus berühmte Aussage, der Mensch sei „von Natur aus gut“, bedeutete einen deutlichen Bruch mit der christlichen Anthropologie, die den Menschen als „von Natur sündhaft“ verstand. Für Rousseau ist nicht das Kind schlecht, sondern die Gesellschaft, insbesondere ihre Erziehungspraxis. Doch diese Annahme ist angreifbar: Viele vertreten (auch in jüngerer Zeit) ein negatives Menschenbild, demzufolge der Mensch von Natur aus nach Macht strebt und die Gesellschaft lediglich einen Spiegel dieser inneren Konflikte darstellt (vgl. Hobbes: homo homini lupus est).

Im Kontrast dazu steht Immanuel Kant, der das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung klar benennt. Er fragt: „Wie kultiviere ich die Freiheit durch den Zwang?“ Kant erkennt an, dass menschliche Autonomie nur durch Begrenzung, insbesondere durch moralische Gesetze wie den kategorischen Imperativ, möglich wird. Für ihn ist Erziehung der Schlüssel zur Mündigkeit: Nur wer gelernt hat, seine Triebe durch den Willen zu beherrschen, kann als freies Subjekt in der Gesellschaft bestehen. Kant sieht Erziehung nicht als „Natürlichkeit“, sondern als Kulturprozess. Er spricht von Disziplinierung, Kultivierung und Moralisierung als aufeinander aufbauenden Elementen.

Wichtig dabei ist Kants Perspektive auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: Während Rousseau Bildung als Rückzug aus der Gesellschaft denkt, begreift Kant sie als Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe. Damit wird Kant zu einem echten Klassiker, weil sein Denken sowohl theoretisch fundiert als auch anschlussfähig an gegenwärtige Fragen der Erziehung und Bildung ist – etwa im Kontext der Migrationsgesellschaft, der globalen Bildungsberichte oder der Kompetenzdebatte im Gefolge von PISA und UNESCO-Initiativen.

Die heutige Schule steht zwischen zwei Polen: dem Anspruch auf individuelle Förderung und der Notwendigkeit gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit. Diese Spannung zeigt sich unter anderem in der Diskussion um Lehrerinnenprofessionalität. Lehrpersonen müssen pädagogische Nähe aufbauen, ohne in persönliche Verhältnisse zu geraten – sie müssen Vertrauenspersonen sein, ohne bloß Freundinnen zu sein. Zugleich haben sie den Auftrag, individuelle Selbstverwirklichung zu ermöglichen und dabei gesellschaftliche Anforderungen zu berücksichtigen. Diese Antinomie zwischen individueller Orientierung und gesellschaftlicher Funktion ist konstitutiv für pädagogisches Handeln. LehrerInnen müssen sich dieser Widersprüche bewusst sein und über ein reflexives Grundrepertoire verfügen, das sie zur kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsmustern und den Strukturen der Institution Schule befähigt ( - zu den Antinomien habe ich dir unten noch etwas angefügt :) -).

Die Aufklärung, als geistiger Hintergrund vieler Klassiker wie Kant, erhebt den Anspruch der Rationalität: Sapere aude! – „Wage es, weise zu sein.“ In diesem Sinne ist Bildung immer auch eine Aufforderung zur Selbstreflexion und zur Übernahme von Verantwortung in einer sich wandelnden Gesellschaft.

Die sechs zentralen Antinomien (nach Helsper, 2002)


pädagogische Antinomien = Beide Seiten einer Antinomie können für sich genommen als richtig und notwendig erachtet werden

1. Antinomie von Organisation und Interaktion

  • Widerspruch: Pädagogisches Handeln ist eingebettet in institutionelle Regeln und Organisationen (z. B. Schule), muss aber zugleich beziehungs- und situationsorientiert mit SchülerInnen umgehen.

  • Spannung: Standardisierte Abläufe vs. individuelle Beziehungsgestaltung.

  • Beispiel: Lehrkraft muss Noten geben (Organisation), aber auch individuelle Lernverläufe würdigen (Interaktion).

2. Antinomie von Nähe und Distanz

  • Widerspruch: Lehrkräfte sollen eine vertrauensvolle Beziehung zu SchülerInnen aufbauen (Nähe), gleichzeitig aber eine professionelle Distanz wahren.

  • Spannung: Empathie vs. Rollendistanz.

  • Beispiel: Persönliches Gespräch führen, ohne „zu privat“ zu werden.

3. Antinomie von Autonomie und Zwang

  • Widerspruch: Erziehung zielt auf Selbstständigkeit und Mündigkeit (Autonomie), erfolgt aber notwendigerweise durch Vorgaben, Regeln und Disziplinierung (Zwang).

  • Spannung: Förderung von Selbstverantwortung vs. Durchsetzung von Pflichten.

  • Beispiel: SchülerInnen sollen selbstständig lernen, aber Hausaufgaben sind verpflichtend.

4. Antinomie von Kulturalisierung und Individualisierung

  • Widerspruch: Bildung vermittelt kulturelle Werte und Normen (Kulturalisierung), soll aber auch die Einzigartigkeit und Selbstverwirklichung des Einzelnen fördern (Individualisierung).

  • Spannung: Allgemeinbildung vs. subjektive Lernwege.

  • Beispiel: Lehrplaninhalt vs. Interessen des Kindes.

5. Antinomie von Differenz und Einheit

  • Widerspruch: Pädagogik muss Unterschiede zwischen SchülerInnen anerkennen (Heterogenität), zugleich aber einheitliche Maßstäbe und Gerechtigkeit sicherstellen.

  • Spannung: Gleichbehandlung vs. individuelle Förderung.

  • Beispiel: Ein Schüler braucht mehr Zeit, aber die Prüfung ist für alle gleich.

6. Antinomie von Vertrauen und Kontrolle

  • Widerspruch: Pädagogisches Handeln beruht auf Vertrauen in die Entwicklungspotenziale der SchülerInnen, muss aber auch deren Leistungen und Verhalten kontrollieren.

  • Spannung: Förderung durch Vertrauen vs. institutionelle Rechenschaftspflicht.

  • Beispiel: Selbstständiges Lernen fördern, aber trotzdem Noten geben.

Bedeutung für die LehrerInnenrolle

  • LehrerInnen stehen ständig in professionellen Spannungsverhältnissen.

  • Ziel ist nicht die Auflösung dieser Widersprüche, sondern reflektierter Umgang mit ihnen.

  • Professionalisierung bedeutet, diese Antinomien zu erkennen, zu balancieren und verantwortungsvoll zu bearbeiten.