Kinderzeichnung als Ausdrucksform
Das Zeichnen gehört zu den unmittelbarsten Formen bildnerischen Ausdrucks, die Kindern bereits im frühen Alter zur Verfügung stehen (Kirchner, 2013, S. 32). Mit einfachen Mitteln wie Stift und Papier können sie ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse direkt sichtbar machen. Auf diese Weise wird das Zeichnen zu einem zentralen Medium, um die Umwelt wahrzunehmen, innere Eindrücke zu verarbeiten und sich kreativ mitzuteilen. Es dient somit nicht nur der Darstellung, sondern auch der emotionalen Bewältigung und der aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt – ein wesentliches Werkzeug kindlicher Weltaneignung und Selbstäußerung.
Trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze zur Entwicklung kindlicher Zeichnungen lassen sich drei übergeordnete Entwicklungsphasen identifizieren: die Kritzelphase, die Schemaphase und die pseudonaturalistische Phase (vgl. Gisbertz-Künster, 2018, S. 34). Dabei ist zu beachten, dass diese Phasen nicht strikt aufeinander folgen. Entwicklungsstufen können unter bestimmten Voraussetzungen entweder übersprungen oder früher als erwartet erreicht werden. Dabei variieren sowohl die Alterszuordnung als auch die konkrete Einteilung der Phasen je nach theoretischem Ansatz, wobei insbesondere Zwischen- und Übergangsphasen unterschiedlich definiert werden (vgl. Gisbertz-Künster, 2018, S. 34f.).
Die Kritzelphase ist die früheste Entwicklungsstufe kindlicher Ausdrucksformen, in der zunächst scheinbar willkürliche Linien entstehen, die jedoch mit zunehmender motorischer Kontrolle gezielter werden. Kinder entdecken in dieser Phase die Freude am Spurenhinterlassen (vgl. Philipps, 2011, S. 17).
Im Grundschulalter befinden sich die Kinder in der Schemaphase, in der sie eine Bildsprache mit einer klaren Gestaltungsabsicht entwickeln (vgl. Philipps, 2011, S. 50). Die Bildung von zeichnerischen Schemata ermöglicht es ihnen, diese als Grundlage zu nutzen und sie schrittweise zu modifizieren. Diese Darstellungen werden mit der Zeit immer differenzierter und realistischer (Gisbertz-Künster, 2018, S. 35f.). Besonders im Vorschulalter und in den ersten Grundschuljahren vertrauen Kinder stark auf ihre bildnerischen Fähigkeiten. Doch dieses Vertrauen nimmt zum Ende der Grundschulzeit immer weiter ab, da Kinder beispielsweise zunehmend realistische Darstellungen anstreben, sich stärker mit anderen vergleichen und selbstkritischer werden. Dies ist kennzeichnend für die pseudonaturalistische Phase (Kirchner, 2013, S. 32f.).
Kinderzeichnungen sind eine eigenständige Ausdrucksform, deren spezifische Zeichen und Symbole zunächst analysiert und erschlossen werden müssen, um eine fundierte Interpretation zu ermöglichen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich sowohl Erkenntnisse über das Kind selbst als auch über den zugrunde liegenden Zeichenprozess gewinnen (vgl. Richter, 1987, S. 13f.). Sie können somit einen wertvollen Zugang zu individuellen Eindrücken, Sichtweisen sowie Gedanken und Emotionen ermöglichen (vgl. Kekeritz, 2022, S. 3).
Während individuelle Faktoren wie die persönliche Entwicklung, das Selbstbild und emotionale Verarbeitungsprozesse die bildnerische Gestaltung prägen, spielen auch äußere Einflüsse eine entscheidende Rolle. Dazu zählen unter anderem Vorerfahrungen, gesellschaftliche Konventionen sowie kulturelle und soziale Gegebenheiten, die das Zeichnen inhaltlich und stilistisch mitgestalten. Aufgrund dieser vielschichtigen Einflussfaktoren erfordert die Interpretation von Kinderzeichnungen besondere Sorgfalt, um vorschnelle oder unzutreffende Rückschlüsse auf die Gedanken und Gefühle des Kindes zu vermeiden (vgl. Kekeritz, 2022, S. 291).
Somit lässt sich zusammenfassend sagen: Kinderzeichnungen sind weit mehr als bloße Bilder – sie entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel innerer und äußerer Einflüsse und erfordern eine sorgfältige Analyse sowie eine reflektierte Interpretation.
Quellen
Gisbertz-Künster, J. (2018). Grundwissen Kunstdidaktik (6. überarbeitete Auflage). Auer.
Kekeritz, M. (2022). Kinderzeichnungen in der qualitativen Forschung. Springer VS.
Kirchner, C. (2013). Kunstunterricht in der Grundschule (4. Auflage). Cornelsen Scriptor.
Philipps, K. (2011). Warum das Huhn vier Beine hat (3., überarb. Neuaufl.). Toeche-Mittler.
Richter, H.-G. (1987). Die Kinderzeichnung (1. Aufl.). Schwann.