Drinck, B. (2010). Erziehung unter Betrachtung anthropologischer Voraussetzungen. In W. Hörner, B. Drinck & S. Jobst (Hg.), Bildung, Erziehung, Sozialisation: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft (2. Aufl., S. 75–93). UTB GmbH; Barbara Budrich.
John Locke – Der Mensch als „tabula rasa“
John Locke (1632–1704) gilt als Vertreter des Empirismus. In seiner Erziehungstheorie beschreibt er den Menschen bei Geburt als „tabula rasa“, also als ein unbeschriebenes Blatt. Er geht davon aus, dass alle Erkenntnisse aus Sinneserfahrungen stammen („Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu“) (Locke zit. nach Drinck, 2010, S.77). Für ihn ist der Mensch wesentlich durch die Erziehung geprägt: Neun von zehn Menschen seien das, was sie durch Erziehung geworden sind. Damit betont Locke die formende Macht der Umwelt und Erziehung, erkennt aber auch an, dass Erziehung nicht bei jedem gleich wirksam ist. Sein Ansatz zeigt einen starken Glauben an Lernen durch Erfahrung und an die erziehende Wirkung der Umgebung (vgl. Dinck, 2010, S.77).
Immanuel Kant – Der Mensch wird erst durch Erziehung zum Menschen
Immanuel Kant (1724–1804) vertritt die Ansicht, dass der Mensch "nur durch Erziehung zum Menschen werden kann" (Kant zit. nach Drinck, 2010, S. 75). Er ist der Auffassung, dass das Kind zwar a priori mit moralischer Fähigkeit ausgestattet sei, diese sich jedoch nur durch Erziehung und Erfahrung entfalten könne. Kant fordert eine wissenschaftlich fundierte Pädagogik, da nur erzogene Menschen zu guten Erziehern werden können. Er betont die Rolle der Erziehung als Kunst, die die Natur des Menschen zur sittlichen Selbstständigkeit führen soll. Seine vier Stufen der Erziehung – Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung – beschreiben den Weg von roher Natur zur moralischen Reife (Kant zit. nach Drinck, 2010, S. 89). Kant sieht Erziehung also als notwendigen Prozess zur Verwirklichung menschlicher Freiheit und Vernunft.
Christian Gotthilf Salzmann – Erziehung des Kindes beginnt bei der Selbsterziehung des Erziehers
Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) betont eine pädagogische Haltung „vom Kinde aus“. In seinem Konzept steht das Kind mit seinen individuellen, entwicklungsbedingten Bedürfnissen im Mittelpunkt. Er fordert nicht nur eine kindgerechte Umgebung, sondern vor allem die Selbsterziehung des Erziehers, die er als „Symbolum“ bezeichnet (Salzmann zit. nach Drinck, 2010, S.77f.). Der Erzieher müsse seine eigenen Fehler reflektieren, um wirksam erziehen zu können. Misslingt die Erziehung, sieht Salzmann die Ursache oft im Versagen der Eltern. Sein Leitspruch: „Rettung der Menschen durch Erziehung“ verbindet Theorie und Praxis – etwa in seiner reformpädagogischen Schule in Schnepfenthal, wo gemeinschaftliches Leben und anschauliches Lernen in der Natur zentral waren (vgl. Drinck, 2010, S.78).
Untersuchungsgegenstand „Pädagogischen Anthropologie"!
Die Pädagogische Anthropologie untersucht die Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit des Menschen. Sie analysiert insbesondere die "Grenzen und Möglichkeiten der Erziehung sowie deren Werte und Normen", die damit verbunden sind (Drinck, 2010, S. 78f.). Dabei geht es auch um den Vergleich zwischen menschlichem und tierischem Verhalten, um die Besonderheiten des Menschen als lern- und bildungsfähiges Wesen (vgl. Drinck, 2010, S.19).
Pädagogische Erkenntnisse aus Studien mit „wilden" Kindern
Studien mit „wilden“ Kindern zeigen eindrücklich, wie wesentlich Erziehung und Sozialisation für die psychische, kognitive und physiologische Entwicklung sind (Drinck, 2010, S.80). Wilde Kinder, die ohne menschlichen Kontakt aufwuchsen, entwickelten häufig kein Ich-Bewusstsein, blieben sprachlos und konnten sich kaum in eine menschliche Gemeinschaft integrieren (vgl. Drinck, 2010, 79f.)
Victor von Aveyron - Zeuge für die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen
Victor von Aveyron war ein etwa 11-jähriger Junge, der 1799 verwildert im Wald gefunden wurde. Jean-Marc Gaspard Itard versuchte, ihn durch spezielle Lernmethoden in die Gesellschaft einzugliedern. „Itard ging davon aus, dass menschenwürdiges Aufwachsen nur in einer Gemeinschaft möglich ist“ und Erziehung ein unverzichtbarer Bestandteil der menschlichen Entwicklung ist (Drinck, 2010, S. 80).
Der Mensch als „Mängelwesen“
Arnold Gehlen beschreibt den Menschen als „instinktreduziertes Mängelwesen“ (Drinck, 2010, S. 87). Ihm fehlen natürliche Schutz-, Flucht- und Angriffsmechanismen sowie ausgereifte Instinkte. Um zu überleben, muss er sich seine Umwelt durch Lernen und kulturelle Gestaltung anpassen. Deshalb ist der Mensch besonders auf Erziehung und Sozialisation angewiesen (vgl. Drinck, 2010, S. 87).
Der Begriff „Instinkt" muss heute neu präzisiert werden. Wie wird er definiert?
Heute wird der Begriff „Instinkt“ durch differenziertere Begriffe ersetzt:
- Im Bereich der Wahrnehmung spricht man von angeborenen Auslösemechanismen (z. B. Kindchenschema),
- im Bereich der Bewegung von Erbkoordinationen (z. B. Saugreflex),
- im kognitiv-motivationalen Bereich von angeborenen Antriebsmechanismen und Lerndispositionen (z. B. Neugierverhalten).
Instinkte gelten als Steuermechanismen der Natur, deren Reaktionen immer gleichförmig und automatisch ablaufen (vgl. Drinck, 2010, S. 82f.).
Unspezialisiertheit des Menschen vs. Spezialisiertheit des Tieres!
Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht auf bestimmte Instinkte oder Fähigkeiten festgelegt. Tiere haben ein spezialisiertes, artspezifisches Verhaltensrepertoire. Der Mensch hingegen ist unspezialisiert, also anfangs unfertig und offen für viele Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Unspezialisiertheit macht Lernen, Erziehung und kulturelle Anpassung notwendig (vgl. Drinck, 2010, S.83).
Die Unspezialisiertheit des Menschen als Entwicklungsvorteil?
Konrad Lorenz sieht die Unspezialisiertheit des Menschen als Vorteil, weil sie ihm die Freiheit lässt, sich unterschiedlich zu entwickeln. Gerade das Fehlen eines festen Instinktprogramms ermöglicht es dem Menschen, seine Umwelt gestaltend zu verändern und sich flexibel anzupassen. Dadurch ist der Mensch fähig zu lernen, kreativ zu sein und Werkzeugintelligenz zu entwickeln (vgl. Lorenz zit nach Drinck, 2010, S.83).
Welche vier Stadien der Menschwerdung durch Erziehung nennt Kant? Erläutern Sie diese!
Immanuel Kant nennt vier Stadien (Kant zit, nach Drinck, 2010, S. 89):
- Disziplinierung: Bezähmung der „Tierheit“, Voraussetzung für Vernünftigkeit und Freiheit.
- Kultivierung: Aneignung von Geschicklichkeit und Bildung durch Unterweisung.
- Zivilisierung: Einfügen in die Gesellschaft durch Übernahme von Manieren und Klugheit.
- Moralisierung: Entwicklung einer sittlichen Gesinnung nach dem Prinzip des kategorischen Imperativs.
Diese vier Stadien beschreiben den Weg von der rohen Natur zur sittlich handelnden Persönlichkeit