Weber, E. (2009). Pädagogik. Eine Einführung. Donauwörth: Auer Verlag. S. 220-234, 239-249.

Warum ist der Begriff "Erziehung" so schwierig?

  • Der Begriff Erziehung ist umstritten und komplex, weil er sehr unterschiedlich verstanden wird – je nach wissenschaftlichem Hintergrund.

  • Erziehung ist kein eindeutiges, objektives Phänomen, sondern ein Deutungsbegriff: Sie wird immer durch einen bestimmten theoretischen Blickwinkel interpretiert.

  • Daraus ergibt sich das sogenannte Referenzproblem: Worauf genau bezieht sich der Begriff „Erziehung“ eigentlich?

Unterschiedliche Arten von Erziehungsbegriffen (nach Brezinka)

Weber stellt anhand von W. Brezinka vier Alternative Unterscheidungen vor, um die verschiedenen Bedeutungen von Erziehung besser zu ordnen:

  1. Prozess- vs. Produktbegriff:

    • Prozess: Erziehung ist ein Vorgang.

    • Produkt: Erziehung wird als das Ergebnis eines Vorgangs gesehen.

  2. Deskriptiv vs. Präskriptiv:

    • Deskriptiv: Beschreibung von Erziehung ohne Bewertung.

    • Präskriptiv: Erziehung wird mit bestimmten Zielen und Werten verbunden.

  3. Absicht vs. Wirkung:

    • Absicht: Es zählt die bewusste Intention des Erziehenden.

    • Wirkung: Entscheidend ist, ob tatsächlich eine Wirkung erzielt wird – unabhängig von Absicht.

  4. Handlung vs. Geschehen:

    • Handlung: Erziehung ist eine geplante, zielgerichtete Tätigkeit.

    • Geschehen: Auch unbeabsichtigte Einflüsse können "erziehend" wirken (z. B. durch die Umwelt, Medien etc.).

Intentionale vs. funktionale Erziehung

Diese Unterscheidung ist sehr wichtig:

  • Intentionale Erziehung:

    • Bewusst, geplant und zielgerichtet.

    • Meist durch eine konkrete Person (z. B. Lehrer, Eltern).

    • Gefahr: Man sieht das Kind nur als „Objekt“, das geformt wird.

  • Funktionale Erziehung:

    • Beiläufig und unbeabsichtigt.

    • Durch Umwelteinflüsse, Medien, Alltag, Kultur etc.

    • Beispiel: Ein Kind lernt durch Fernsehen oder Freundeskreis – ohne dass jemand dies absichtlich so geplant hat.

Weber betont, dass beide Formen wichtig sind, aber in der Pädagogik oft die intentionale Erziehung überbetont wird.

Die Rolle von Freiheit und Selbstbestimmung

  • Erziehung muss die Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen achten.

  • Ziel der Erziehung ist nicht blinder Gehorsam, sondern Selbstbestimmung und moralisches Handeln.

  • Der Mensch soll lernen zu bewerten, nicht einfach Werte übernehmen.

Erziehung im Kontext der pluralistischen Gesellschaft

  • In einer Gesellschaft mit vielen Werten (Wertpluralismus) ist Erziehung besonders herausgefordert.

  • Es geht nicht darum, feste Werte „einzubläuen“, sondern Kindern und Jugendlichen zu helfen, selbst Werte zu entwickeln.

  • Dabei sind Dialog, Verantwortung und Orientierung zentrale Prinzipien.

Fazit: Was ist Erziehung?

Erziehung ist ein vielschichtiger, kontextabhängiger Prozess, der sowohl bewusst geplant als auch unbewusst beeinflusst sein kann. Sie hat das Ziel, Menschen zur Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme und moralischem Handeln zu befähigen – nicht durch Zwang, sondern durch Dialog und Achtung ihrer Würde.