Allgemeine Pädagogik
Wichtige Definitionen findest du hier :)
Muss der Mensch erzogen werden?
Mit dieser Examensfrage möchte ich gerne starten, denn sie wirkt auf den ersten Blick simpel, ist jedoch weitaus tiefgründiger, als es zunächst scheint.
Die spontane Antwort – insbesondere aus der Perspektive angehender Lehrkräfte – wäre vermutlich ein klares "Ja".
Dieser spannenden und vielschichtigen Fragestellung wollen wir im Folgenden auf den Grund gehen.
Zuerst sollten wir die Fragestellung genau betrachten: Was steckt eigentlich dahinter? In diesem Satz sind mehrere Kernelemente enthalten, die wir systematisch erfassen müssen. Wenn wir das tun, erkennen wir bereits die wichtigen Begriffe und Implikationen, die es zu klären gilt.
Die Fragestellung enthält unter anderem folgende Aspekte:
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Mensch: Hier wäre eine Möglichkeit (als Beispiel), den Menschen aus Sicht der pädagogischen Anthropologie zu untersuchen (= Stichwort "Erziehungsbedürftigkeit").
Im Kontext der Anthropologie wird explizit die Frage(n) gestellt:
- Was ist der Mensch?
- Was soll der Mensch sein?
- Wie ist der Mensch?
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Erziehung: Wir müssen versuchen zu erläutern, was unter dem Begriff „Erziehung“ zu verstehen ist. "Erziehung ist nicht ohne Ziele, Normen und Werte möglich" (Gudjons, H. & Traub, S., (2020) S. 183).
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„muss“: Dieses Wort signalisiert eine Forderung oder Verpflichtung. Es deutet darauf hin, dass jemand der Auffassung ist, dass eine bestimmte Erziehung erfolgen soll. Damit wird eine normative (also wertende) oder sozialisatorische Komponente angesprochen.
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Demnach stellt sich die Frage nach dem "wie?" – also: Auf welche Weise und in welchem Rahmen soll der Mensch erzogen werden? Diese Frage nach dem "wie?" steht für Werte und Normen (Normativität) -> Also ein bestimmtes Erziehungsziel.
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Erneut gibt es auch hier verschiedene Auffassungen darüber, wie man gut oder wie man schlecht erzieht (= Stichwort - Methodisierung von Erziehung).
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Diese Faktoren stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Das bedeutet: Wir müssen das Zusammenspiel dieser Begriffe im Blick haben, wenn wir die Frage beantworten wollen. Außerdem sollten wir all diese Überlegungen mit dem Fachwissen verknüpfen, das wir im Studium erworben haben – und das ist natürlich eine ganze Menge.
Im Folgenden möchte ich dir deshalb eine mögliche Herangehensweise schildern, wie ich selbst an die Fragestellung herangehen würde. Das ist natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten und keine Patentlösung. Vielleicht hilft dir meine Darstellung aber dabei, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und den Zusammenhang besser zu verstehen.
Mensch
Grundlegend:
Pädagogische Handlungen beruhen auf Menschenbildern. Es gibt verschiedene Auffassungen des Menschen. Hier nur ein paar Beispiele:
(Weitere Beispiele findest du in der unten angeführten Mind-Map)
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Arnold Gehlen
Arnold Gehlen beschreibt den Menschen als „Mängelwesen“, dem instinktive Sicherheiten und körperliche Schutzmechanismen fehlen. Um zu überleben, schafft er sich durch Lernen, Handeln und Kultur eine künstliche Ersatzwelt, die seine natürlichen Defizite ausgleicht.
Zentral - „Der Mensch muss um des Überlebens willen zur Kultur erzogen werden“
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Adolf Portmann
Adolf Portmann sieht den Menschen aufgrund seiner „physiologischen Frühgeburt“ als besonders entwicklungsbedürftig: Erst durch ein nachgeburtliches „extra-uterines Frühjahr“ in menschlicher Umgebung erwirbt er grundlegende Fähigkeiten wie aufrechten Gang, Sprache und Handlungsfähigkeit. Daraus ergibt sich seine hohe Lernfähigkeit, seine Weltoffenheit und die Notwendigkeit von Erziehung.
Mind-Map zur Examensfrage "Muss der Mensch erzogen werden?"
Ich teile hier gerne meine Mind-Map zur Examensfrage mit dir – vielleicht findest du darin ein paar hilfreiche Impulse für deine Ausarbeitung der Fragestellung. Schau gerne mal rein!
Die folgende Gliederung soll lediglich zur Strukturierung meiner Mind-Map dienen. Sie ist noch ausbaufähig und versteht sich ausschließlich als Vorschlag – nicht als Musterbeispiel. Vielmehr möchte sie eine kleine Hilfe zur Orientierung bieten.
Gliederung – „Muss der Mensch erzogen werden?“
- Einleitung:
Menschsein als pädagogische Grundfrage
- Einstieg über die anthropologische Leitfrage: Was ist der Mensch?
- Relevanz der Erziehungsfrage in historischer wie aktueller Perspektive (Kant, Gehlen)
- Ziel: Herleitung und Begründung der Aussage: „Ja, der Mensch muss erzogen werden“
- Hauptteil:
Anthropologische Begründung der Erziehungsbedürftigkeit
- (pädagogische) Anthropologie: Erkenntnisinteresse
- Menschenbilder und ihre Bedeutung -> Hierzu zwei Beispiele: Der Mensch als Mängelwesen (Gehlen): biologisch unfertig, auf Kultur angewiesen und/oder Der Mensch als Vernunftwesen (Kant): Freiheit nur durch Erziehung möglich (bspw.) -> Ableitung bestimmter Merkmale von Menschenbildern
- Zwischenfazit: Ohne Erziehung bleibt der Mensch unter seinen Möglichkeiten
- Erziehung
- Definition (vgl. Brezinka 1990)
- Normativer Auftrag: Erziehung als humanistische und politische Pflicht
- Erziehung vermittelt Werte, Normen und Verantwortung (Kant, Litt)
- Staat als Erziehungsinstanz zur Zivilisierung des Menschen (Hobbes)
- Ziel: Mündige, gemeinschaftsfähige Persönlichkeit in pluraler Gesellschaft
- hierzu: Erziehungsbedürftigkeit des Menschen (biologische Aspekte/ philosophische Aspekte)
- Schluss:
Warum soll der Mensch erzogen werden?
- Synthese anthropologischer, gesellschaftlicher und normativer Argumente (Zusammenführung des Ganzen)
- Der Mensch ist nicht nur fähig, sondern auch darauf angewiesen, erzogen zu werden
- Schlussaussage: Ja, der Mensch muss erzogen werden
Schritt für Schritt
Hier gibt es eine kurze Anleitung zur Schritt-für-Schritt-Lösung zu dieser Examensfrage (Hauptteil)
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Was ist Anthropologie?
anthropos: der Mensch
logos: Lehre (auch: Wissenschaft)
Zentrale Frage der (pädagogischen) Anthropologie: Was ist der Mensch?
Und was genau ist die pädagogische Anthropologie?
Eine der wissenschaftlichen Subdisziplinen, mit deren Hilfe die impliziten und expliziten Annahmen der Pädagogik über den Menschen reflektiert werden.
(1) historisch-pädagogische Anthropologie geisteswissenschaftlicher Prägung
(2) naturwissenschaftlich-pädagogische Anthropologie (Mensch als "Gattungswesen")
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Menschenbilder - zur Bedeutung von Menschenbildern:
"Dass jede pädagogische Vorstellung explizites oder implizites Menschenbild enthält, erscheint zunächst trivial. Bedeutsamer wird dieser Sachverhalt, wenn man sich bewusst macht, dass pädagogische Menschenbilder auch deskriptive und vor allem normative Vorstellungen darüber enthalten, wie Entwicklungen verlaufen bzw. verlaufen sollen oder auch, was eine humane Bestimmung ausmacht bzw. ausmachen soll."
(Wulf u. Zarifas 2014)
1. Historizität
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Der Mensch ist ein historisches Wesen: seine Entwicklung, sein Denken und seine Bildung sind zeitlich geprägt.
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Pädagogische Anthropologie reflektiert, wie sich Menschenbilder im Lauf der Geschichte verändert haben.
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Beispiel: Das Bild vom „Kind als unbeschriebenem Blatt“ in der Aufklärung vs. heutige Vorstellungen vom Kind als aktivem Lerner.
2. Kulturelle und kulturell vermittelte Wissensformen
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Anthropologische Erkenntnisse sind kulturell situiert – das heißt: was wir über den Menschen wissen oder zu wissen glauben, ist von kulturellen Kontexten geprägt.
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Pädagogische Anthropologie bezieht daher interkulturelle Perspektiven ein.
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Sie erkennt an, dass Wissen über „den Menschen“ nicht universell und objektiv, sondern immer auch kulturell gefärbt ist.
3. Kritische Perspektive
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Pädagogische Anthropologie hat oft einen kritischen Anspruch: Sie fragt, inwiefern bestimmte Menschenbilder z. B. ausgrenzend, normierend oder ideologisch sind.
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Sie analysiert kritisch, welche normativen Vorstellungen von „Bildung“, „Normalität“ oder „Entwicklung“ unser pädagogisches Denken prägen.
4. Selbstreflexivität
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Pädagogische Anthropologie ist selbstreflexiv, d. h. sie bezieht auch die eigene Perspektive in die Analyse mit ein.
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Beispiel: Wenn wir über „das Kind“ oder „den Lernenden“ sprechen – aus welcher Position tun wir das? Was sagen unsere Begriffe über uns selbst aus?
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Auch Lehrpersonen und Forschende sind Teil des pädagogischen Feldes, nicht außenstehende Beobachtende.
5. Leiblichkeit und Subjektivität
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Der Mensch wird nicht nur als rationales, sondern auch als leibliches, fühlendes, handelndes Subjekt verstanden.
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Bildung betrifft immer auch den ganzen Menschen, nicht nur den Kopf. Das heißt: Emotionen, Körper, Wahrnehmung, Erfahrung – all das spielt eine Rolle.
6. Offenheit des Menschen (Mängelwesen, Weltoffenheit)
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Zentral ist die Idee des Menschen als „offenes Wesen“ (Arnold Gehlen, Helmuth Plessner): Er ist nicht festgelegt, sondern gestaltbar, erziehungsbedürftig, aber auch bildungsfähig.
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Diese Offenheit ist Grundlage dafür, dass Pädagogik überhaupt möglich ist
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Erziehungsbedürftigkeit des Menschen
(1) Der Mensch als Mängelwesen: Kultur als Kompensation dieser Schwäche
(2) Der Mensch als "geistbegabtes Wesen": Kultur als Ausdruck des menschlichen Reichtums
Quellen
Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt.