Heitger, M. (2015). Erziehung. In G. Reinhold (Hg.), Pädagogik-Lexikon (S. 139 -144). R. Oldenbourg Verlag.
Dieser Text entfaltet eine differenzierte und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erziehung in der gegenwärtigen Pädagogik. Er beleuchtet Spannungsfelder zwischen Freiheit und Zwang, Subjektivität und gesellschaftlicher Normativität sowie zwischen dialogischer Offenheit und tradierten Werteordnungen.
Zentrale Gedanken im Überblick:
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Ambivalenz des Erziehungsbegriffs:
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Einerseits wird Erziehung als Herrschaftsausübung kritisiert (z. B. von der Antipädagogik).
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Andererseits wird sie in einer pluralistischen Gesellschaft als notwendige Orientierungshilfe betont.
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Erziehung vs. Unterricht:
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Unterricht zielt auf Wissen und seine Vermittlung unter Geltungsanspruch.
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Erziehung hingegen richtet sich auf das Subjekt, seine Haltung und sein Verhalten – also auf das „Wie“ des Umgangs mit Wissen.
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Erziehung und Freiheit:
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Die Erziehung muss die Freiheit des Subjekts achten, um nicht zur Manipulation oder Machtausübung zu werden.
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Daraus folgt die dialogische Grundstruktur der Erziehung: Nur in einem gleichberechtigten Dialog können Werte vermittelt werden.
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Wertorientierung statt Wertindoktrination:
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Erziehung ist nicht wertfrei, doch sie darf dem anderen kein festes Wertesystem aufzwingen.
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Vielmehr geht es um das Lernen verantwortlichen Bewertens.
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Zwang in der Erziehung – eine notwendige Dialektik:
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Zwang ist nur dann gerechtfertigt, wenn er Schaden abwendet oder Moralität anbahnt – nie als bloßes Machtmittel.
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Der berühmte Kant-Satz wird aufgegriffen: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“
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Selbstbestimmung als Ziel:
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Der Mensch wird als freies, sich selbst bestimmendes Wesen verstanden.
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Erziehung soll nicht normativ „formen“, sondern die Bedingungen schaffen, unter denen Selbstbestimmung gelingen kann.
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Erziehung als inter- und intrapersonaler Dialog:
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Ziel ist, dass der äußere Dialog zwischen Erziehendem und Kind in einen inneren Dialog des Subjekts mit sich selbst mündet.
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Dies ist Bedingung für echtes moralisches Handeln.
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Erziehung in Zeiten des Wertpluralismus:
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Gerade in einer pluralen Gesellschaft ist Erziehung notwendig, um Orientierung zu ermöglichen.
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Traditionen und Bräuche sollen nicht autoritativ vermittelt, sondern in ihrer Wertigkeit kritisch verdeutlicht werden.
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Bedeutung des Textes:
Dieser Text bietet eine fundierte anthropologisch-ethische Grundlage für eine moderne, dialogische Pädagogik. Er wendet sich gegen autoritäre, technokratische oder rein funktionale Erziehungsmodelle und formuliert ein pädagogisches Verständnis, das die Würde und Freiheit des Menschen ins Zentrum stellt.