Sozialisation


Erziehung vs. Sozialisation


Vergleichs-kategorien

Erziehung

Sozialisation


Definition

"Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychologischen Dispositionen anderer Menschen [...] dauerhaft zu verbessern oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten".

(Brezinka, 1978, S.45; zit. nach Lenzen, 1999, S.169)

"Prozess in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung und der körperlichen und psychischen Konstitution ("innere Realität") versehene menschliche Organismus einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen - der sozialen materiellen Umwelt ("äußere Realität") - weiterentwickelt" (Hurrelmann & Bauer, 2015)

Einordnung

Erziehung als Teil der Sozialisation

 

"Sozialmachung des Menschen"

Sozialisation wird in diesem Sinnzusammenhang als Oberbegriff verstanden.

 "Sozialwerdung des Menschen"

Akteure 

Beispielsweise: Erziehungsberechtigte, Lehrer etc. - menschliche Individuen mit einer klaren Rollenverteilung (Kompetenzgefälle der Akteure))

Beispielsweise: Umwelt, Familie, Peers etc. 

(Die Gesamtheit sozialer und materieller Umweltbedingungen)

Beispiele 

Lehrkraft: Bewusste Beeinflussung der Verhaltensdispositionen der zu erziehenden Person - also ein zielgerichteter Prozess

Die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums wird durch die Erfahrungen mit der Umwelt beeinflusst

Prozess-beschreibung

intentionaler, planvoller und bewusster Prozess

oftmals beiläufig, unbewusst und nicht gesteuert oder kontrolliert

Ziel(e)

Verfolgt konkrete und explizite Ziele wie die Beeinflussung der Persönlichkeit. Jedoch ist hierbei zu betonen, dass diese Form der Einflussnahme stets Versuchscharakter hat. Es gibt zwar ein angestrebtes Ziel, aber keine Garantie dieses auch zu erreichen.

Beispielhafte Zielvorstellung sind Emanzipation und Eigenverantwortlichkeit

Generierung individueller Handlungsfähigkeit und Beitrag zur Einbindung des Individuums in gesellschaftliche Strukturen. Anders als Erziehung hat die Sozialisation kein explizites Ziel, dennoch hat sie essentielle Funktionen, die jedoch nicht geplant sind.

Funktion: Stabilisierung und Reproduktion der Gesellschaft

Zeitliche Eingrenzung

Wird häufig  als beschränkt auf Kindheit und Jugendphase betrachtet.

lebenslanger Prozess mit spezifischen Anforderungen für jede Altersgruppe 

(primäre, sekundäre und gegebenenfalls tertiäre Phasen abhängig vom Lebensalter)

Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt. 159–162

Sozialisation ist nicht bloße Anpassung - sondern eine "dynamische Person-Umwelt-Beziehung" (Hurrelmann/Grundmann/Walper zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159). 

Definition


Es gibt nicht DIE Sozialisation - sondern "sozialisationstheoretische Fragestellungen" (Hurrelmann/Ulich zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159). 

-> "Sozialisation ist ein begriffliches Konstrukt, ein Bündel von theoretischen Fragen und Problemstellungen, das sich in analytischer Absicht mit einem nicht unmittelbar beobachtbaren Ausschnitt der Realität beschäftigt" (Gudjons & Traub, 2020, S. 159).

„Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der
biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen
Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen
auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen“ (Hurrelmann/Grundmann/Walper zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 160) 

Sozialisationsebenen nach Hurrelmann (1988)

Der deutsche Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann (geb. 1944) unterscheidet drei Ebenen der Sozialisation:

  1. Primäre Sozialisation

    • Findet in der frühen Kindheit, vor allem in der Familie statt.

    • Kinder lernen z. B. Grundverhalten, Sprache, erste Regeln.

  2. Sekundäre Sozialisation

    • Passiert z. B. in Kita, Schule, Freundeskreis.

    • Kinder lernen neue Rollen kennen, etwa als Schüler*in oder Teammitglied.

  3. Tertiäre Sozialisation

    • Betrifft das Erwachsenenalter, z. B. durch Beruf, Medien, Politik.

    • Menschen müssen sich immer wieder an neue Lebensphasen anpassen.

Strukturelle Bedingungen der Sozialisation

  • Bestimmte gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen die Sozialisation stark, z. B.:

    • Soziale Herkunft (z. B. arm oder reich)

    • Bildungschancen

    • Geschlecht

    • Medien

    • Kulturelle Normen

  • Menschen haben nicht alle dieselben Chancen – soziale Ungleichheit wirkt sich auf Sozialisation aus.

Struktur der Sozialisationsbedingungen

(Tillmann 2000/2010


Grundidee:

Das Modell beschreibt, wie die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums (das „Subjekt“) durch verschiedene gesellschaftliche Ebenen beeinflusst wird – und umgekehrt. Es verdeutlicht, dass Sozialisation nicht linear oder einseitig, sondern vermittelt und wechselseitig stattfindet.

Vier Ebenen des Modells (von außen nach innen):

  1. Gesamtgesellschaft (Ebene 4):
    Dazu gehören grundlegende gesellschaftliche Strukturen – etwa die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Ordnung. Sie schaffen den übergeordneten Rahmen für alle Sozialisationseinflüsse.

  2. Institutionen (Ebene 3):
    Diese gesellschaftlichen Einrichtungen (z. B. Schulen, Medien, Kirchen, Militär, Betriebe) vermitteln die Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft an die Individuen. Sie wirken als Filter zwischen Gesellschaft und Alltag.

  3. Interaktionen und Tätigkeiten (Ebene 2):
    Dies sind konkrete zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Handlungen – z. B. Eltern-Kind-Kommunikation, Unterricht, Freundschaften. Hier findet direkte persönliche Sozialisation statt.

  4. Subjekt (Ebene 1):
    Das Individuum, das durch Erfahrungen, Wissen, emotionale Muster, kognitive Fähigkeiten usw. seine Persönlichkeit formt. Es ist nicht passiv, sondern verarbeitet aktiv die Einflüsse der Umwelt.

Wechselseitigkeit:

Die Pfeile im Modell zeigen, dass jede Ebene auf die jeweils andere zurückwirken kann:

  • Nicht nur „die Gesellschaft formt das Subjekt“,

  • sondern das Subjekt kann durch Handlungen, Entscheidungen, Widerstand oder Innovation auch Gesellschaft, Institutionen und Interaktionen beeinflussen.

Fazit zum Modell:

Das Modell veranschaulicht die komplexe Vermittlungsstruktur von Sozialisation. Es unterstreicht, dass Sozialisation nicht als bloße Anpassung zu verstehen ist, sondern als dynamischer Prozess zwischen individueller Aktivität und sozialer Umwelt.

Verständnis von Sozialisation und Erziehung


Begriffliche Abgrenzung:

  • Sozialisation ist ein weiter gefasster Begriff. Er bezeichnet alle Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen – ob beabsichtigt oder nicht, bewusst oder unbewusst.

  • Erziehung ist ein Teilbereich der Sozialisation. Sie ist gekennzeichnet durch gezielte, geplante, bewusste Handlungen mit dem Ziel, bestimmte Entwicklungen zu fördern.

Zentrale Unterscheidung (vgl. S. 162):

„Während der Sozialisationsbegriff ein breites Interaktionsgeschehen beinhaltet, werden mit Erziehung (nur) ‚die Handlungen und Maßnahmen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluss zu nehmen, um sie nach bestimmten Wertmaßstäben zu fördern … also die bewussten und geplanten Einflussnahmen‘“
(Hurrelmann 1998, 14, zitiert nach Gudjons & Traub, 2020, S. 162)

Zusammenhang:

  • Jede Erziehung ist Teil von Sozialisation.

  • Aber nicht jede Sozialisation ist Erziehung.
    (z. B. wirkt das Verhalten von Peers oder Medien oft stark, aber unbeabsichtigt)

Hurrelmann, K., Erhart, M. & Ravens-Sieberer, U. (2018). Sozialisation. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt & S. R. Buch (Hg.), Beltz Psychologie 2018. Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5. Aufl., S. 789–799). Beltz.

»Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung und der körperlichen und psychischen Konstitution (›innere Realität‹) versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen– der sozialen und materiellen  Umwelt (›äußere Realität‹)– weiterentwickelt«
(Hurrelmann & Bauer, 2015, 18)

  • Wichtige Unterscheidung: Sozialisation ≠ Erziehung, aber sie überschneiden sich.

  • Ziel: Entwicklung einer Ich-Identität und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit.

 

Zentrale Theorien und Modelle

 

a) Soziologischer Zugang

  • Émile Durkheim (1858–1917): Sozialisation als „Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte“.

  • Talcott Parsons (1951): Soziale Rollen stehen im Mittelpunkt; Sozialisation = Rollenerwerb.

 

b) Psychoanalytischer Zugang

  • Sigmund Freud (1856–1939): Sozialisation als Konflikt zwischen Trieben und gesellschaftlichen Anforderungen.

  • Modell des Es – Ich – Über-Ich.

  • Wichtig für die frühe Kindheit: Identitätsentwicklung durch Internalisierung von Normen.

 

c) Lerntheoretischer Zugang

  • Albert Bandura (1963, 1977): Sozialisation durch Lernen am Modell („Modelllernen“).

  • Betonung auf Beobachtung und Nachahmung.

 

d) Interaktionistischer Zugang

  • George Herbert Mead (1934): Sozialisation als Ergebnis sozialer Interaktionen.

  • „Self“ entsteht im Dialog mit der Umwelt (Rollenerwartungen und Perspektivübernahme).

 

e) Strukturgenetischer Ansatz

  • Jean Piaget (1896–1980): Entwicklung der Denkstruktur durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt.

  • Lawrence Kohlberg (1981): Stufenmodell der Moralentwicklung.

 

f) Theorie der produktiven Realitätsverarbeitung

  • Klaus Hurrelmann (1988, 2018):

    • Sozialisation = „produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“.

    • Ziel: Ich-Identität durch Balance von individuellen Anlagen (z. B. körperliche Voraussetzungen) und sozialen Anforderungen.

    • Sozialisation vollzieht sich in Instanzen: Familie, Schule, Peer-Group, Medien etc.

    • Sozialisation ist lebenslang, aber Kindheit und Jugend sind besonders prägend.

 

Sozialisation und Entwicklung

  • Sozialisation beeinflusst Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung.

  • Besondere Bedeutung hat sie in Kindheit und Jugend.

  • Entwicklungskrisen können entstehen, wenn Anforderungen und Bewältigungsressourcen nicht im Gleichgewicht sind (z. B. Pubertät).

Die Vielzahl der Theorien ergibt sich daraus, dass Sozialisation ein sehr komplexer Prozess ist, der aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Jeder Zugang betont andere Aspekte davon – je nach wissenschaftlichem Hintergrund der Forschenden. Hier ist eine kurze Übersicht, warum es diese Vielfalt gibt:

Warum verschiedene Sozialisationszugänge?


Zugang

 

Soziologisch (z.B. Durkheim, Parsons)

 

 

 

Psychoanalytisch (Freud)

 

 

 

Lerntheoretisch (Bandura)

 

 

 

Interaktionistisch (Mead)

 

 

 

Strukturgenetisch (Piaget, Kohlberg)

 

 

 

Sozialisationstheorie von Hurrelmann 

Was wird betont?

 

Gesellschaftliche Strukturen, Normen und Rollen

 

 

Innere Konflikte, Triebe, psychische Entwicklung

 

 

Lernen durch Nachahmung 

 

 

Soziale Interaktion, Rollenübernahme 

 

 

 

Kognitive und moralische Entwicklung

 

 

 

Zusammenspiel von innerer und äußerer Realität 

Warum wichtig?

 

Zeigt, wie stark Gesellschaft die Menschen formt

 

 

Verdeutlicht, wie frühkindliche Erfahrungen prägen

 

Erklärt, wie Verhalten durch Vorbilder entsteht 

 

 

Zeigt, wie "Selbst" im Austausch mit anderen entsteht 

 

 

Macht klar, dass Sozialisation auch Denkleistungen braucht 

 

 

Verbindet viele Perspektiven zu einem Gesamtmodell