Erziehung
Zu Beginn gebe ich einen Überblick über grundlegende Aspekte des Erziehungsbegriffs – dabei fließt auch etwas weiter gefasstes Wissen mit ein.
Wenn du es lieber kompakt magst: weiter unten findest du eine kürzere Zusammenfassung mit den zentralen Punkten – ganz nach dem Motto „In der Kürze liegt die Würze“.
Grundlegendes zum pädagogischen Erziehungsbegriff:
Zunächst einmal soll an dieser Stelle klar sein: Es gibt keine allgemeingültige Definition des Erziehungsbegriffs. Es gibt sehr viele, teils gegensätzliche Auffassungen davon, was Erziehung ist. Eine einheitliche Theorie für alles zu finden, ist heute kaum möglich.
Kurze Weiterführung hierzu: Was ist mit dem "Erziehungsbegriff" gemeint – und warum ist er so kompliziert?
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Definitionen von "Erziehung" sind sehr allgemein (im weiten Sinne) – und deshalb oft abstrakt, vieldeutig und nicht einfach zu greifen.
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Der Erziehungsbegriff ist kein "Realbegriff":
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Das heißt: Er beschreibt nicht einfach ein messbares, beobachtbares Phänomen aus der empirischen Erziehungswissenschaft.
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Er ist auch kein "Wesensbegriff":
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Also: Es geht nicht darum, das "Wesen" oder die wahre Natur von Erziehung intuitiv zu erfassen, wie es manche philosophischen Richtungen versuchen.
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Sondern: Der Begriff "Erziehung" ist ein Deutungsbegriff oder Interpretationskonzept:
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Das bedeutet: "Erziehung" ist ein theoretisches Konstrukt, das uns hilft, eine komplexe Wirklichkeit zu deuten, also zu interpretieren.
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Laut dem Philosophen Kratochwil entsteht ein solcher Begriff durch die "Kontraktion von Erfahrungen":
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Das heißt: Viele einzelne Erfahrungen und Beobachtungen werden zusammengezogen (kontrahiert) und in einem Begriff wie "Erziehung" gebündelt – immer unter einem bestimmten theoretischen Blickwinkel oder Deutungshorizont.
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Das führt zum sogenannten "Referenzproblem":
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Man muss sich fragen: Worauf bezieht sich der Begriff "Erziehung" eigentlich genau?
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Das kann je nach Theorie oder wissenschaftlichem Ansatz unterschiedlich sein. In einem psychologischen Kontext meint "Erziehung" vielleicht etwas anderes als in einem philosophischen oder soziologischen.
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Wichtig: Der Begriff "Erziehung" bezieht sich nicht einfach auf eine bestimmte Sache, sondern:
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Er setzt die Kriterien selbst, mit denen wir entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Handlung als "Erziehung" gilt oder nicht.
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Fazit (in einfachen Worten):
"Erziehung" ist kein klar umrissener, messbarer Vorgang, sondern ein theoretischer Begriff, den wir brauchen, um bestimmte komplexe menschliche Phänomene (z. B. Lernen, Anleitung, Einflussnahme) zu verstehen und zu deuten. Was genau unter "Erziehung" fällt, hängt vom jeweiligen theoretischen Standpunkt ab.
Zwei Grundverständnisse/Bilder von Erziehung
- Technizismus: Erziehung wie Handwerk → bewusstes "Herstellen".
Erziehung als ein »herstellendes Machen, analog zur handwerklichen Produktion eines Gegenstandes«, der Erzieher gleicht dem Handwerker, der »einen angestrebten Zweck mit Hilfe bestimmter Mittel und Methoden handelnd anstrebt«.
- Naturalismus: Erziehung wie Gartenpflege → unterstützendes "Wachsenlassen".
Das Kind entfaltet sich auf eine mehr oder weniger natürliche Art selbst, »analog zum organischen Wachstum«, wie eine Pflanze, »Erziehen heißt hier begleitendes Wachsenlassen.« Der Erzieher gleicht dem Gärtner (oder Bauern), »der pflegend und schützend bei einem Entwicklungsprozess hilft, der – als ein natürlicher – von selbst geschieht«
➔ Theodor Litt (1880-1962):
Diese beiden Pole (also "Führen" und "Wachsenlassen" dürfen laut Litt nicht getrennt, sondern müssen in Balance gedacht werden: Erziehung gelingt, wenn sie sowohl leitet als auch Freiheit zur Entwicklung lässt (Litt, 1927).
Definitionen des Erziehungsbegriffs
Kant (1724–1804)
Immanuel Kant hat sich in seiner Schrift "Über Pädagogik" (posthum veröffentlicht 1803) grundlegend mit dem Thema Erziehung befasst. Seine Auffassung ist bis heute einflussreich. Hier ist eine kompakte Zusammenfassung von Kants Erziehungsverständnis und seiner Theorie:
Kant sieht Erziehung als ein zentrales Mittel zur Menschwerdung des Menschen – denn:
„Der Mensch kann nur zum Menschen werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht …“
Für Kant ist der Mensch das einzige Wesen, das erzogen werden muss, weil er nicht allein durch Instinkte geleitet wird, sondern durch Vernunft erzogen werden soll.
Ziel der Erziehung laut Kant:
Die Entwicklung des Menschen zu einem freien, selbstbestimmten und vernunftgeleiteten Wesen, das zugleich Teil der Gemeinschaft ist.
Mehr zu Kants Erziehungstheorie findest du hier :)
PS: Dort findest du auch weitere Erziehungstheorien (wie die von Locke oder Rousseau) - in einer ausführlicheren Version :)
Lockes Erziehungsbegriff – in Kürze:
John Locke gilt als einer der Väter des Empirismus und vertritt die Auffassung, dass der Mensch bei Geburt ein „tabula rasa“ (leeres Blatt) ist. Alles Wissen und alle Vorstellungen entstehen durch Erfahrung, besonders über die Sinneswahrnehmung – das ist der sogenannte Sensualismus.
„Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war.“
Besonderheit:
Locke denkt Erziehung individualistisch – nicht im Sinne einer allgemeinen Theorie, sondern als Anleitung für eine personenzentrierte, lebensnahe Erziehungspraxis.
Brezinkas Definition von Erziehung (1978)
"Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychologischen Dispositionen anderer Menschen [...] dauerhaft zu verbessern oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten".
(Brezinka, 1978, S.45; zit. nach Lenzen, 1999, S.169)
Diese Definition enthält (min.) fünf Bestimmungsmerkmale:
- Die Erziehende Person als Mensch
- Die Unvollkommenheit (das Misslingen) erzieherischer Handlungen – psychische Dispositionen des Lerners und nicht des Erziehers
- Soziale Handlungen -> zielgerichtetes, zweckbestimmtes Verhalten, welches an eine Person gerichtet ist (sozial)
- Psychische Dispositionen = relativ dauerhafte Bereitschaften zum Erleben und Verhalten (also nicht flüchtig)
- Verbessern oder erhalten = einem vorgestellten Soll-Zustand wird vom erzieherisch Handelnden Wert zugeschrieben wird (den die Wissenschaft allerdings nicht bestimmen kann = wissenschaftlicher Wertrelativismus).
Kritik:
- Zu allgemeiner Begriff - Ein Verständnis von Erziehung als bloßer Versuch ist wenig anschlussfähig für empirische Untersuchungen zur Aufdeckung kausaler Zusammenhänge.
- Reduziert Erziehung auf bloße Dispositionsänderung - Die Veränderung psychischer Dispositionen ist ein sehr genereller und weit verbreiteter Prozess, der häufig auch von Erziehung entkoppelt ist (z.B. Werbung, Wahlkampf). Die Übergänge zwischen Erziehung und anderen, potentiell manipulierenden Formen der Dispositionsbeeinflussung bleibt also anhand der Definition sehr diffus.
- Lernende erscheinen zu passiv - Die aktive Rolle des Zöglings im Erziehungsprozess wird zugunsten einer einseitigen Wirkrichtung vom Subjekt des Erziehenden zum Objekt des Zöglings vernachlässigt.
- Erziehung wirkt "geschichtslos" - Erziehung nach Brezinka vernachlässigt die Rolle des historischen und gesellschaftlichen Kontexts für das erzieherische Handeln.
Was schlägt Heid vor?
"Erziehung sind solche Handlungen, die eine erzieherische Absicht verfolgen und im Sinne dieser Absicht erfolgreich sind." (Heid, 1994)
Absicht und Erfolg sollen zusammen gedacht werden!
Nur wenn beides zusammenkommt, liegt „richtige“ Erziehung vor:
- Der Erzieher beabsichtigt eine Veränderung und
- die Veränderung tritt tatsächlich ein, und zwar so, wie beabsichtigt, nicht zufällig.
Erziehung wird so zu einem:
- rationalen (vernünftigen),
- planbaren (vorausdenkbaren) und
- verantwortbaren (ethisch bewussten)
Handeln.
➔ Heid nennt das einen handlungstheoretischen Erziehungsbegriff.
Erziehung wird hier nicht mehr als bloßer Versuch verstanden, sondern schließt explizit auch die Wirkung auf den Zögling ein, die mit der Intention übereinstimmen muss, um von Erziehung sprechen zu können. Damit wird Erziehung leichter operationalisierbar, sodass sich dieses Verständnis von Erziehung als Anknüpfungspunkt für empirische Untersuchungen eignet.
Kriterien anhand derer sich verschiedene Konzepte von Erziehung systematisieren lassen
Brezinka unterscheidet bei der Analyse von Erziehungsbegriffen folgende
vier Konzeptualisierungsdimensionen (Brezinka, 1975)
Deskriptiv vs. Präskriptiv
Deskriptiv
(Programmatisch-) Präskriptiv
Beschreibend: Erziehung wird wertfrei beschrieben, so wie sie tatsächlich geschieht.
Vorschreibend: Erziehung wird mit Zielvorgaben verbunden: Wie soll sie idealerweise sein?
Fokus auf Analyse und Beschreibung.
Fokus auf Normen, Werte und Soll Vorstellungen.
Beispiel: Brezinkas Erziehungsbegriff
Beispiel: Bildungsideale wie "Mündigkeit" bei Kant und Humboldt
Handlungs- vs. Geschehensbegriff
Handlungsbegriff
Geschehensbegriff
Geplante und bewusste Einflussnahme (z.B. Erziehung durch Eltern, Schule).
Unbeabsichtigte Einflüsse, die die Persönlichkeit formen (z.B. durch Medien, soziales Umfeld).
Erziehung geplant, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Erziehung passiert als Teil sozialer Prozesse, oft ohne bewusste Steuerung.
Beispiel: Lehrplanarbeit in der Schule.
Beispiel: Sozialisationstheorie
Prozessbedeutung vs. Produktbedeutung
Prozess
Produkt
Erziehung als dauerhafter Vorgang (Lernen, Entwicklung)
Erziehung als Resultat (z.B. eine gefestigte Haltung oder ein bestimmter Charakter).
Fokus liegt auf dem Weg, dem Ablauf.
Fokus liegt auf dem Endzustand, dem erreichten Ziel.
Beispiel: Begleitendes Coaching eines Kindes.
Beispiel: Ein Kind, das "höflich" geworden ist.
Absichtsbegriff vs. Wirkungsbegriff
Absicht
Wirkung
Es zählt die Intention des Erziehenden, unabhängig vom tatsächlichen Erfolg.
Nur tatsächlich eingetretene Veränderung gilt als Erziehung.
Beispiel: Eltern bemühen sich, dem Kind Verantwortungsbewusstsein beizubringen, egal ob es gelingt.
Beispiel: Ein Kind entwickelt Verantwortungsbewusstsein - unabhängig davon, ob es so geplant war.
Kurze Einordnung Brezinkas Erziehungsbegriffs
Deskriptiv versus Präskripti
Bei Brezinkas Erziehungsverständnis handelt es sich um einen klassisch deskriptiven Erziehungsbegriff, der eine rein beschreibende Funktion erfüllt und eine Abgrenzung von anderen sozialen Prozessen vornimmt. Wertende Aussagen wie Vorschläge für geeignete Erziehungspraktiken und wünschenswerte Ziele werden nicht getätigt.
Funktional versus Intentional
Als intentionales, zielorientiertes Handeln verweigert sich Brezinka einer Auslegung als bloßes Geschehen und lässt sich damit eindeutig als Handlungsbegriff identifizieren - nicht nur, weil der Begriff der Handlung sich im Wortlaut der Definition wiederfindet.
Prozessbegriff versus Produktbegriff
Brezinkas Erziehungsverständnis lässt sich als Prozessbegriff klassifizieren: im Fokus stehen Absicht und Handeln des Erziehenden, nicht aber die Wirkung, die laut Brezinka selbst nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit auf das erzieherische Handeln zurückgeführt werden kann und sich damit als Definitionskriterium ausschließt.
Absichtsbegriff versus Wirkungsbegriff
Brezinkas Erziehungsbegriff zeichnet sich durch die Kriterien des Absichtsbegriffs aus. Erziehung hat stets Versuchscharakter und kann auch diesen Versuch beschränkt bleiben, ohne die angestrebte Wirkung zu entfalten. Beobachtbare Effekte eindeutig auf Erziehung zurückzuführen, ist laut Brezinka nicht möglich.
Warum ist der Mensch auf Erziehung angewiesen?
- Mensch als Mängelwesen (Gehlen): instinktarm, auf Kultur und Lernen angewiesen.
- Physiologische Frühgeburt (Portmann): Mensch braucht längere Reifezeit nach Geburt.
- Weltoffenheit (Uexküll, Scheler, Plessner): Mensch gestaltet aktiv seine Umwelt.
- Enkulturation: Hineinwachsen in Sprache, Werte, Kunst, Religion, Recht etc.
- Zentrale Widersprüchlichkeit:
→ Abhängigkeit in der Kindheit soll später Autonomie ermöglichen.
In der Kürze liegt die Würze
Zwei zentrale Ansichten
Technizismus
- Aktives Eingreifen des Erziehenden
- Mit Steuerung u einem wünschenswerten Zustand (Ziel)
- Erziehung nur durch Eingreifen möglich - kein eigenständiges "Wachsen-lassen.
Naturalismus
- natürliche Veranlagungen und Tendenzen zum wünschenswerten Verhalten
- Erziehende lediglich als Begleitung und Unterstützung
Kriterien anhand derer sich verschiedene Konzepte von Erziehung systematisieren lassen
- Prozess vs. Produkt:
Prozess = Erziehung ist ein Vorgang, der abläuft.
Produkt = Erziehung ist ein fertiges Ergebnis.
Kritik: Man kann nie sicher sagen, ob ein Ergebnis wirklich durch eine bestimmte Erziehung entstanden ist. - Deskriptiv vs. Programmatisch-präskriptiv:
Deskriptiv = beschreibt Erziehung einfach so, wie sie ist, ohne Bewertung.
Programmatisch-präskriptiv = legt fest, wie Erziehung sein soll (mit Zielen und Werten). - Absichts- vs. Wirkungs-Begriff:
Absichts-Begriff = Entscheidend ist die Absicht, egal ob sie erfolgreich ist.
Wirkungs-Begriff = Entscheidend ist das Ergebnis, ob es die gewünschte Wirkung hat. - Handlungs-Begriff vs. Geschehens-Begriff:
Handlungs-Begriff = Erziehung ist eine bewusste Handlung mit Förderungsabsicht.
Geschehens-Begriff = Erziehung ist Teil aller Einflüsse, die Menschen prägen – bewusst oder unbewusst.
Brezinkas Erziehungsbegriff (1999)
- Erziehende sind Menschen.
- Erfolg nicht garantiert (nur Versuch!).
- Erziehung ist zielgerichtetes soziales Handeln.
- Veränderung betrifft dauerhafte Eigenschaften (z.B. Einstellungen).
- Werte sind subjektiv → Wissenschaft bleibt neutral.
Heids handlungstheoretischer Erziehungsbegriff
Merkmale:
- Rationales, planbares, verantwortbares Handeln.
- Vermeidet einseitige Betonung von Absicht oder Wirkung.
- Abgrenzung zur Sozialisation: Erziehung = bewusste, geplante Einflussnahme.
Brezinka vs. Heid
Brezinka
Nur Absicht zählt
Wertfreie Definition
Wissenschaftliche Neutralität
Heid
Absicht + Erfolg müssen übereinstimmen
Normen und Werte sind unvermeidlich
Pädagogische Verantwortung im Zentrum
Quellen
Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt.