Hurrelmann, K., Erhart, M. & Ravens-Sieberer, U. (2018). Sozialisation. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt & S. R. Buch (Hg.), Beltz Psychologie 2018. Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5. Aufl., S. 789–799). Beltz.
»Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung und der körperlichen und psychischen Konstitution (›innere Realität‹) versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen– der sozialen und materiellen Umwelt (›äußere Realität‹)– weiterentwickelt«
(Hurrelmann & Bauer, 2015, 18).
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Wichtige Unterscheidung: Sozialisation ≠ Erziehung, aber sie überschneiden sich.
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Ziel: Entwicklung einer Ich-Identität und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit.
Zentrale Theorien und Modelle
a) Soziologischer Zugang
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Émile Durkheim (1858–1917): Sozialisation als „Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte“.
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Talcott Parsons (1951): Soziale Rollen stehen im Mittelpunkt; Sozialisation = Rollenerwerb.
b) Psychoanalytischer Zugang
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Sigmund Freud (1856–1939): Sozialisation als Konflikt zwischen Trieben und gesellschaftlichen Anforderungen.
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Modell des Es – Ich – Über-Ich.
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Wichtig für die frühe Kindheit: Identitätsentwicklung durch Internalisierung von Normen.
c) Lerntheoretischer Zugang
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Albert Bandura (1963, 1977): Sozialisation durch Lernen am Modell („Modelllernen“).
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Betonung auf Beobachtung und Nachahmung.
d) Interaktionistischer Zugang
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George Herbert Mead (1934): Sozialisation als Ergebnis sozialer Interaktionen.
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„Self“ entsteht im Dialog mit der Umwelt (Rollenerwartungen und Perspektivübernahme).
e) Strukturgenetischer Ansatz
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Jean Piaget (1896–1980): Entwicklung der Denkstruktur durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt.
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Lawrence Kohlberg (1981): Stufenmodell der Moralentwicklung.
f) Theorie der produktiven Realitätsverarbeitung
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Klaus Hurrelmann (1988, 2018):
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Sozialisation = „produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität“.
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Ziel: Ich-Identität durch Balance von individuellen Anlagen (z. B. körperliche Voraussetzungen) und sozialen Anforderungen.
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Sozialisation vollzieht sich in Instanzen: Familie, Schule, Peer-Group, Medien etc.
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Sozialisation ist lebenslang, aber Kindheit und Jugend sind besonders prägend.
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Sozialisation und Entwicklung
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Sozialisation beeinflusst Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung.
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Besondere Bedeutung hat sie in Kindheit und Jugend.
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Entwicklungskrisen können entstehen, wenn Anforderungen und Bewältigungsressourcen nicht im Gleichgewicht sind (z. B. Pubertät).
Die Vielzahl der Theorien ergibt sich daraus, dass Sozialisation ein sehr komplexer Prozess ist, der aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Jeder Zugang betont andere Aspekte davon – je nach wissenschaftlichem Hintergrund der Forschenden. Hier ist eine kurze Übersicht, warum es diese Vielfalt gibt:
Warum verschiedene Sozialisationszugänge?
Zugang
Was wird betont?
Warum wichtig?
Soziologisch (z.B. Durkheim, Parsons)
Gesellschaftliche Strukturen, Normen und Rollen
Zeigt, wie stark Gesellschaft die Menschen formt
Psychoanalytisch (Freud)
Innere Konflikte, Triebe, psychische Entwicklung
Verdeutlicht, wie frühkindliche Erfahrungen prägen
Lerntheoretisch (Bandura)
Lernen durch Nachahmung
Erklärt, wie Verhalten durch Vorbilder entsteht
Interaktionistisch (Mead)
Soziale Interaktion, Rollenübernahme
Zeigt, wie "Selbst" im Austausch mit anderen entsteht
Strukturgenetisch (Piaget, Kohlberg)
Kognitive und moralische Entwicklung
Macht klar, dass Sozialisation auch Denkleistungen braucht
Sozialisationstheorie von Hurrelmann
Zusammenspiel von innerer und äußerer Realität
Verbindet viele Perspektiven zu einem Gesamtmodell