Zirfas, J.: Bildung: In: Kade et al. (2011): Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart. S. 13-18
Zum Bildungsbegriff
Obwohl „Bildung“ zu den zentralen Grundbegriffen der Erziehungswissenschaft gehört, ist er nur schwer eindeutig zu bestimmen. Zirfas betont, dass der Bildungsbegriff sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und pädagogischen Schulen unterschiedlich verwendet wird. Eine einheitliche Definition existiert nicht. Die genaue Bedeutung ergibt sich jeweils erst im Kontext spezifischer Bildungstheorien
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Geisteswissenschaftliche Pädagogik: Bildung = "wechselseitige Erschließung von Ich und Welt"
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Kritische Erziehungswissenschaft: Identifikation von Bildung mit Emanzipation
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Empirische Erziehungswissenschaft: Übersetzung von Bildung in messbare Kompetenzmodelle
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Phänomenologische Pädagogik: Bildung als Entfaltung von Sinnlichkeit.
(Zirfas in Kade et al., 2011, S. 13)
Wichtig!
"[D]er Bildungsbegriff ist [unverzichtbar] für die pädagogische Diskursbildung [...]. Denn in ihm bündeln sich pädagogische Fragestellungen und Dimensionen"
(Zirfas in Kade et al., 2011, S. 13)
Historische Entwicklung des Bildungsbegriffs
Die Wortgeschichte des Begriffs beginnt mit dem althochdeutschen „bildunga“, das zunächst äußere Gestalt bedeutete. Erst im 18. Jahrhundert wandert die Bedeutung ins Innere – Bildung als Formung des Geistes. In der Antike steht der Begriff „paideia“ für Erziehung, Bildung, Wissenschaft und ästhetisches Empfinden. Der römische Begriff „cultura animi“ überträgt das Bild der Bodenpflege auf die seelische Entwicklung. In der christlichen Tradition wird Bildung als Gottähnlichkeit (imago dei) gedeutet. Im Humanismus und der Renaissance tritt der kulturell gebildete Mensch (z. B. der „honnête homme“) in den Vordergrund. Mit der Aufklärung entstehen zwei Bildungsmodelle: eines, das auf gesellschaftliche Brauchbarkeit zielt (Philanthropen), und eines, das die Mündigkeit des Einzelnen betont (Kant).
(Zirfas In: Kade et al., 2011, S. 15f.)
In der Klassik und im Neuhumanismus (z. B. Herder, Schiller, Humboldt) wird Bildung zur sprachlich-kulturellen Selbstverwirklichung. Die Romantik (z. B. Rousseau, Fröbel) betrachtet Bildung als kindgerechte Entfaltung. In marxistischer Tradition schließlich ist Bildung ein Mittel zur Emanzipation von Herrschaft und Entfremdung.
(Zirfas In: Kade et al., 2011, S. 16)
Bildung bedeutet, dass sich ein Mensch mit wichtigen Fragen und Werten der Welt auseinandersetzt – zum Beispiel mit dem, was als vernünftig, gut oder menschlich gilt. Dabei geht es darum, wie die eigene Persönlichkeit mit der Kultur, in der man lebt, verbunden ist.
Man kann sagen: Bildung ist das Zusammenspiel von Ich und Welt, von eigenen Erfahrungen und dem, was die Gesellschaft für wichtig hält.
Wer sich bildet, denkt über sich selbst und die Welt intensiv nach, lernt dazu, entwickelt eigene Vorstellungen – und gestaltet dadurch einen eigenständigen und bewussten Lebensstil.
Oft passiert Bildung dann, wenn man mit etwas Fremdem oder mit einer Krise konfrontiert wird – also mit etwas, das die bisherigen Überzeugungen in Frage stellt.
Was bedeutet das konkret?
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Bildung ist mehr als Wissen oder Schulbildung.
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Es geht darum, sich mit kulturellen, ethischen oder gesellschaftlichen Werten auseinanderzusetzen.
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Bildung verbindet das Individuelle (z. B. Persönlichkeit, Gefühle, Erfahrungen) mit dem Allgemeinen (z. B. Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Verantwortung).
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Bildung ist ein Prozess, der immer wieder neu beginnt – besonders dann, wenn man herausgefordert wird oder auf etwas Neues stößt.
Struktur und Bedeutung von Bildung (S. 13–15)
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Bildung bedeutet ein Wechselverhältnis zwischen Subjektivität (Individuum) und Objektivität (Kultur, Welt, Humanität).
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Sie geschieht als Antwort auf Fremdheit und Krisenerfahrungen und betont den Einzelnen stärker als der Erziehungsbegriff.
„Bildung meint einen differenzierten, intensiven und reflektierten Umgang mit sich und der Welt.“ (S. 13)
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Bildung kann deskriptiv (als Prozess) oder normativ (als Ideal) verstanden werden.
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Bildungsprozesse umfassen:
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Bildungsstoffe (z. B. durch Curricula festgelegt),
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Bildungsvoraussetzungen (z. B. soziale Herkunft, Kultur),
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Bildungsresultate (habituelle Prägungen).
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Typen und Dimensionen von Bildung (S. 14–15)
Nach Inhalten:
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Theoretische Bildung → Wissen und Klassifikation
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Praktische Bildung → moralisches Handeln
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Ästhetische Bildung → Wahrnehmung, Kunst, Geschmack
Zirfas unterscheidet drei klassische Bildungstypen: Theoretische Bildung richtet sich auf Wissen, Klassifizierung und wissenschaftliche Erkenntnis. Praktische Bildung umfasst das Handeln in moralischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Die ästhetische Bildung zielt auf die Fähigkeit, Wahrnehmung, Geschmack und Ausdrucksformen wie Kunst reflektiert zu erleben. Ergänzend verweist Zirfas auf die Unterscheidung von Langewand (1994), der fünf Dimensionen von Bildung nennt: sachlich (Bildungsinhalte), temporal (historische Perspektive), sozial (gesellschaftliche Anerkennung), wissenschaftlich (Bildungstheorie) und autobiographisch (individuelle Selbstbeschreibung) (S. 14–15).
Soziale Funktion und Kritik (S. 15)
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Seit dem 19. Jahrhundert dient Bildung auch als soziales Distinktionsmerkmal.
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Der Begriff wurde im 20. Jh. durch Kommerzialisierung und Privatisierung verändert (z. B. Bildung als „Marke“ oder „Ware“).
Theoretische Konzepte (S. 17–18)
Wilhelm von Humboldt begreift Bildung als Entfaltung innerer Kräfte im Kontakt mit Sprache, Kultur und Gesellschaft. Sie ist nicht Mittel zum Zweck, sondern ein Selbstzweck – ein lebenslanger Prozess, der Mensch und Welt zugleich bildet (Zirfas in Kade et al., 2011, S.17). Wolfgang Klafki wiederum beschreibt Bildung als Befähigung zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Allgemeinbildung bedeutet für ihn: Bildung für alle, in allen Dimensionen, zu zentralen Gegenwarts- und Zukunftsfragen (z. B. Krieg, Ökologie). Hartmut von Hentig benennt sechs Bildungsmaßstäbe, darunter Abwehr von Unmenschlichkeit, Geschichtsbewusstsein und Verantwortung. Diese sollen zur Selbstbildung der Schüler anregen (Zirfas in Kade et al., 2011, S.17).
Empirische Befunde (S. 18)
- Bildung als politisch-soziale Forderung → muss empirisch überprüfbar sein.
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Bildungsstandards (z. B. durch PISA): messen Qualifikationen, aber nicht reflexive Bildungsprozesse (bspw. Motivation etc.).
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Bildung wird zunehmend mit literacy gleichgesetzt: Lesekompetenz, Informationsnutzung etc.
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Kritik: Bildungsstandards prüfen eher Systeme als individuelle Bildung.
Weinert, F. E. (2000). Lehren und Lernen in der Zukunft - Ansprüche an das Lernen in der Schule. In: Pädagogische Nachrichten Rheinland-Pfalz, 2/2000, S. 1-11, 16.
Warum wir Reformen brauchen...
Zunächst ....
Gründe für die “Hochkonjunktur” der Bildungspolitik:
1. Stetige Veränderung durch Wissenschaft und Technik: Veraltung von Wissen innerhalb kürzerer Zeiträume (Stichwort: “Halbwertszeit des Wissens”)
Fazit: Wir brauchen Reformen im Bildungssystem, weil sich unsere Welt ständig verändert. Schule muss Kinder nicht nur mit „Wissen auf Vorrat“ füttern, sondern ihnen beibringen, wie man lernt – damit sie sich auch in Zukunft selbst weiterbilden können. -> “Wir müssen von einem Bildungs-Vorratsmodell zu einem permanenten Bildungs-Erneuerungsmodell" (Weinert, 2000, S. 1)
2. Veränderung der Arbeitswelt: Gering qualifizierte Jobs verschwinden (Aufgrund der Mechanisierung, Automatisierung und Elektrisierung), gleichzeitig steigt die Zahl unbesetzter Stellen für hoch Qualifizierte (also steigende Arbeitslosigkeit). Das Qualifikationsniveau muss insgesamt steigen (Weinert, 2000, S. 2).
3. Mittelmäßigkeit deutscher Schulsysteme: Internationale Vergleichsstudien (TIMSS) zeigen, dass Deutschland im internationalen Vergleich nur mittelmäßige Leistungen erbringt, auch bei den leistungsstärksten Schüler:innen (S. 2–3).
Warum Evaluationen notwendig sind...
Warum werden Untersuchungen wie TIMSS und PISA durchgeführt?
- Wissen über den Stand im internationalen Vergleich
- Wissen über die “Leistungstüchtigkeit” der Schüler:innen
- > Generelle Überprüfung des Bildungssystems – um dann Veränderungen aus den Ergebnissen ableiten zu können
Evaluation ist notwendig, weil Schulen – anders als Firmen oder Forschungsinstitute – nicht automatisch nach Leistung gesteuert werden (Weinert, 2000, S. 3–4).
Ziel: Verbesserung der Unterrichtsqualität, nicht bloße Kontrolle.
Um die schlechten Bildungsergebnisse zu korrigieren ist eine “Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens notwendig” betont Weinert (Weinert, 2000, S.5)
Sechs fundamentale Bildungsziele
1. Vermittlung von intelligentem Wissen” (wichtigstes Bildungsziel nach Weinert): (Weinert, 2000, S. 5f.)
- Intelligentes Wissen ist bedeutungsvolles, vernetztes und flexibel anwendbares Wissen – kein bloßes Faktenwissen.
- Es bildet die Grundlage für lebenslanges Lernen.
- Erwerb in systematischer Wiese -> erfordert: Lehrergesteuerte Unterrichtsmethode (aber schülerzentriert (auf der Basis des jeweiligen Vorwissens))
2. “Erwerb anwendungsfähigen Wissens” (Weinert, 2000, S.6f)
- Wissen allein reicht nicht – es muss auch in verschiedenen Situationen anwendbar sein.
- Ziel ist horizontaler Transfer: Wissen soll in unterschiedlichen Kontexten nutzbar sein.
- Besonders gefördert durch Projektunterricht mit sinnvollen, komplexen und transdisziplinären Problemen (Nutzen von Wissen in unterschiedlichen Anwendungssituationen)
3. “Erwerb variabel nutzbarer Schlüsselqualifikationen” (Weinert, 2000, S. 7f.)
- Gemeint sind übertragbare Kompetenzen wie mündlich sprachlicher Ausdruck, Fremdsprachen, Medienkompetenz (konkrete Kompetenzen), aber auch abstrakte Fähigkeiten wie Autonomie, Selbstmanagement oder kritisches Denken.
- Es wird zwischen konkreten (vermittelbar) und abstrakten (schwer vermittelbar) Schlüsselqualifikationen unterschieden.
- Lehrpläne sollten auf das Machbare, nicht nur auf das Wünschenswerte abzielen.
4. “Erwerb von Lernkompetenzen” (Weinert, 2000, 8f.)
- Viele Schüler lernen Inhalte, wissen aber nicht, wie sie lernen.
- Ziel: Lernen lernen (Lernprozesse werden selbst zum Unterrichtsgegenstand -> Schüler:innen zu Expert:innen ihres eigenen Lernens machen.
- Dazu gehört: Strategien, Gedächtniswissen, Selbstbeobachtung, Lernplanung, Kontrolle und Reflexion.
- Dies erfordert explizite Zeit im Unterricht für die Reflexion über Lernprozesse.
5. “Der Erwerb sozialer Kompetenzen” (Weinert, 2000, S. 9f.)
- Teamfähigkeit, kooperative Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein, Konfliktfähigkeit – diese Kompetenzen sind für das Berufsleben zentral.
- Systematische Gruppenarbeit muss als Unterrichtsform fest integriert werden.
- Wichtig ist eine reflektierte Auseinandersetzung mit sozialen Erfahrungen unter Anleitung.
6. “Erwerb von Werteorientierungen” (Weinert, 2000, S.10)
- Gemeint sind sowohl universelle Normen (Fairness, Gerechtigkeit) als auch kulturelle und demokratische Werte.
- Keine neue „Fachdisziplin“, sondern Teil der Schulkultur: “Wie organisieren Schulen ihren eigenen Unterricht?” / “Was heißt das, eine Schulkultur aufbauen?”
"Begabung und Umwelt"
Weinert warnt vor einer einseitigen Sichtwei
- Einerseits: Begabung allein entscheidet nicht über Bildungserfolg.
- Andererseits: Schule kann nicht alle Unterschiede ausgleichen.
- Bildungserfolg entsteht im Zusammenspiel von Anlage (Begabung) und Umwelt (z. B. Unterricht).
Kritik an der „zynischen“ These von Herrnstein und Murray (1994): Bildung sei zwecklos für weniger Begabte -> Weinert widerspricht entschieden: Gerade die weniger Begabten brauchen gute Schulen.
Fazit
- Alle Bildungsziele gelten für alle Schüler, aber auf unterschiedlichem Niveau.
- Lebenslanges Lernen ist notwendig und nur möglich, wenn Schüler in der Schule die Grundlagen dafür erwerben.
- Die Umsetzung dieser Ziele erfordert eine neue Lern- und Schulkultur, die nur gemeinsam mit der Gesellschaft realisiert werden kann.
- Dabei bleibt das Ziel Nummer 1 – der systematische Erwerb intelligenten Wissens – die wichtigste Grundlage.
Was bedeutet Bildung heute? – Zwischen Selbstentfaltung und gesellschaftlicher Funktion
Die Frage nach dem zeitgemäßen Bildungsbegriff ist aktueller denn je. In einer komplexen, globalisierten und pluralen Gesellschaft stellt sich nicht nur die Frage, was Bildung leisten soll, sondern auch welche Ziele sie verfolgt – für das Individuum und für die Gesellschaft. In diesem Spannungsfeld wird Bildung häufig einem ihrer Gegenpole gegenübergestellt: Ausbildung.
Bildung vs. Ausbildung – ein klassisches Gegensatzpaar
Während Ausbildung auf konkrete berufliche Verwertbarkeit und die Vermittlung anwendungsorientierter Fähigkeiten zielt, verweist Bildung auf einen umfassenderen Begriff: die individuelle Selbstvervollkommnung, Urteilsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung. In der heutigen Gesellschaft stehen sich zwei grundlegende Deutungen gegenüber: eine ökonomisierte Bildungsvorstellung, etwa in Form der Humankapitaltheorie, und ein emanzipatorischer Bildungsbegriff, wie ihn etwa Humboldt oder Klafki vertreten.
In der Humankapitaltheorie wird Bildung als Investition betrachtet – mit dem Ziel, den ökonomischen Nutzen für Individuum und Gesellschaft zu steigern. Bildung wird hier funktionalisiert: als Mittel zur Effizienzsteigerung, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Sie ist Kapital – und wird messbar gemacht. In diesem Kontext entstehen Kompetenzraster, Output-Kriterien und internationale Vergleichsstudien wie PISA.
Dem gegenüber steht ein klassisches Bildungsverständnis, das sich nicht über Kosten-Nutzen-Rechnungen legitimiert, sondern auf die Idee der Selbstbildung zurückgeht. So formulierte Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Konzept der allgemeinen Bildung als Wechselwirkung zwischen „Ich“ und „Welt“ – Bildung als Aneignung der Welt in freiheitlicher Selbsttätigkeit. Auch Friedrich Nietzsche plädierte im 19. Jahrhundert für eine „unzeitgemäße Bildung“, die sich eben nicht an unmittelbare Verwertbarkeit orientiert, sondern an Kultur, Tiefe und Eigenständigkeit des Denkens.
Bildung im historischen Wandel – vom Humboldt’schen Ideal zur Schulpflicht
Die Frage, was als „Bildung“ gilt, ist stets zeitgebunden. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde im Zuge der napoleonischen Reformen der Grundstein für eine breitere gesellschaftliche Teilhabe gelegt. Napoleon führte – als Antwort auf überkommene Ständestrukturen – das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ein. Bildung sollte nun nicht länger ein Privileg des Adels sein, sondern sich nach Fähigkeit und Leistung richten. In Bayern etwa wurde im Jahr 1803 die allgemeine Schulpflicht eingeführt – ein deutlicher Schritt in Richtung Chancengleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe.
Diese Entwicklungen zeigen: Der Bildungsbegriff ist nicht statisch. Er wandelt sich mit den gesellschaftlichen Herausforderungen und Leitvorstellungen seiner Zeit.
Bildung heute – neue Anforderungen, neue Perspektiven
Im 21. Jahrhundert steht Schule vor neuen Aufgaben. Die Gesellschaft ist heterogener, pluraler und dynamischer als je zuvor: kulturelle Vielfalt, verschiedene Religionen, soziale Ungleichheit, technologische Entwicklungen und globale Herausforderungen prägen den Bildungsalltag.
Ein modernes Bildungsverständnis muss diese Vielfalt nicht nur anerkennen, sondern produktiv nutzen. In einer konstruktivistischen Auffassung von Lernen steht nicht die bloße Wissensweitergabe im Vordergrund, sondern die aktive Auseinandersetzung mit Welt und Wirklichkeit. Bildung wird hier als Verstehens- und Deutungsprozess verstanden – angestoßen durch Irritation, kritische Reflexion und selbstgesteuertes Lernen.
Klafkis Konzept der Allgemeinbildung – Bildung als Antwort auf die Herausforderungen der Zeit
Wolfgang Klafki hat ein modernes, gesellschaftlich und individuell anschlussfähiges Bildungsverständnis entwickelt. Er begreift Bildung als die Fähigkeit, sich mit den „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ auseinanderzusetzen – also mit Fragen, die alle Menschen betreffen, wie etwa:
- Krieg und Frieden
- Umweltproblematik und Nachhaltigkeit
- Digitalisierung und Medienkompetenz
- soziale Gerechtigkeit und Teilhabe
Ziel ist die Ausbildung von drei zentralen Kompetenzen:
- Selbstbestimmungsfähigkeit
- Mitbestimmungsfähigkeit
- Solidaritätsfähigkeit
Diese Fähigkeiten sind notwendig, um Menschen zu befähigen, kritisch zu denken, verantwortlich zu handeln und solidarisch zu leben – unabhängig von ökonomischen Verwertungsinteressen. Klafki spricht in diesem Zusammenhang von kategorialer Bildung: Bildung bedeutet hier, dass sich der Mensch die Welt inhaltlich (material) und methodisch (formal) erschließt – und zwar in der Verschränkung von Wissen und Können. Wissen wird dabei nicht statisch verstanden, sondern in Verbindung mit Handlungskompetenz.
Bildung als Prozess des Weltverstehens – und der Selbstbildung
Kategoriale Bildung setzt voraus, dass bestehende Weltbilder hinterfragt und weiterentwickelt werden. Bildung beginnt dort, wo Irritation entsteht – etwa durch Widersprüche, neue Perspektiven oder gesellschaftliche Veränderungen. Diese Irritation kann dazu führen, dass Menschen ihr Verständnis von Welt modifizieren – und genau hier beginnt ein echter Bildungsprozess.
Dabei geht es um mehr als bloßes Faktenwissen (materiale Bildung) oder bloßes Methodenwissen (formale Bildung): Bildung entsteht im Zusammenspiel beider Aspekte, in der aktiven Auseinandersetzung mit Weltinhalten und im Erwerb von Werkzeugen zur Erschließung dieser Inhalte.
Fazit: Bildung heute – zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Entfaltung
Ein zeitgemäßer Bildungsbegriff muss mehrdimensional gedacht werden. Bildung bedeutet heute:
- Mehr als Ausbildung, denn sie umfasst Selbstreflexion, Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Verantwortung.
- Mehr als Humankapital, denn sie hat einen Wert über ökonomische Nutzen hinaus.
- Mehr als reiner Wissenskanon, denn sie erfordert Fähigkeiten zum Umgang mit Unsicherheit, Vielfalt und Wandel.
Klafkis Idee der Allgemeinbildung bietet dabei eine zeitlose, aber dennoch hochaktuelle Orientierung: Bildung ist die Fähigkeit, sich mit sich selbst, der Welt und den anderen in Beziehung zu setzen – selbstbestimmt, mitbestimmt und solidarisch.