Weber, E. (2009). Pädagogik. Eine Einführung. Donauwörth: Auer Verlag. S. 220-234, 239-249.
Warum ist der Begriff "Erziehung" so schwierig?
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Der Begriff Erziehung ist umstritten und komplex, weil er sehr unterschiedlich verstanden wird – je nach wissenschaftlichem Hintergrund.
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Erziehung ist kein eindeutiges, objektives Phänomen, sondern ein Deutungsbegriff: Sie wird immer durch einen bestimmten theoretischen Blickwinkel interpretiert (Oelkers zit. nach Weber, 2009, S.220).
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Daraus ergibt sich das sogenannte Referenzproblem: Worauf genau bezieht sich der Begriff „Erziehung“ eigentlich?
Auch Weber (2009) greift in seinem Text nochmals die Konzeptualisierungsdimensionen von Brezinka auf. Für das Examen ist es besonders hilfreich, verschiedene Quellen zu einem Thema benennen zu können. Deshalb möchte ich dieses Konzept – obwohl es hier inhaltlich erneut erscheint und bereits ausführlich in meiner Zusammenfassung des Textes von Gudjons, H. & Traub, S. (2020) behandelt wurde – an dieser Stelle noch einmal aufführen. Man kann es also als gezielte Wiederholung verstehen ...
Vier Konzeptualisierungsdimensionen nach W. Brezinka (Weber, 2009, S. 220–222)
Brezinka unterscheidet vier grundlegende Dimensionen, wie man „Erziehung“ verstehen kann:
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Prozess- vs. Produktbegriff:
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Prozess: Erziehung ist ein Vorgang.
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Produkt: Erziehung ist ein Ergebnis (z. B. ein „gebildeter Mensch“).
→ Kritik: Der Produktbegriff ist schwierig, weil nicht klar ist, ob das Ergebnis wirklich auf Erziehung zurückgeht.
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Deskriptiv vs. präskriptiv:
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Deskriptiv: wertfrei, beschreibend („Was passiert?“)
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Präskriptiv: normativ, vorschreibend („Was sollte sein?“)
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Absichts- vs. Wirkungsbegriff:
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Absicht: Der Wille des Erziehers zählt (Intention).
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Wirkung: Entscheidend ist das Ergebnis (ob es beabsichtigt war oder nicht).
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Handlungs- vs. Geschehensbegriff:
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Handlung: bewusste, geplante Einwirkung durch den Erzieher.
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Geschehen: unbeabsichtigte, zufällige Einflüsse aus der Umwelt.
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(Brezinka, zit. nach Weber (2009), S. 220–222)
Intentionale vs. funktionale Erziehung
Diese Unterscheidung ist sehr wichtig:
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Intentionale Erziehung:
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Bewusst, geplant und zielgerichtet.
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Meist durch eine konkrete Person (z. B. Lehrer, Eltern).
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Gefahr: Man sieht das Kind nur als „Objekt“, das geformt wird.
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Funktionale Erziehung:
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Beiläufig und unbeabsichtigt.
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Durch Umwelteinflüsse, Medien, Alltag, Kultur etc.
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Beispiel: Ein Kind lernt durch Fernsehen oder Freundeskreis – ohne dass jemand dies absichtlich so geplant hat.
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Weber betont, dass beide Formen wichtig sind, aber in der Pädagogik oft die intentionale Erziehung überbetont wird.
(vgl. Weber, 2009, S. 222f.)
Ab S. 229 erweitert Weber die Diskussion um die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Erziehung. Direkte Erziehung meint hier eine unmittelbare Einflussnahme (z. B. durch Ermahnung, Lob, Belehrung), während indirekte Erziehung auf subtilere, mittelbare Weise wirkt – etwa durch Vorbilder, Atmosphäre oder institutionelle Strukturen wie die Architektur eines Schulgebäudes. Gerade im schulischen Alltag spielen diese beiden Formen oft ineinander.
Ein weiterer wichtiger Punkt, den Weber auf S. 231–234 behandelt, ist die Frage, ob Erziehung nur für Kinder und Jugendliche gilt oder ob sie alle Lebensalter betrifft. Während klassische Theoretiker wie Schleiermacher und Langeveld Erziehung als asymmetrisches Verhältnis zwischen älteren Erziehenden und jüngeren Zu-Erziehenden sehen, argumentieren moderne Ansätze, etwa von Brezinka oder Bokelmann, dass Erziehung auch bei Erwachsenen vorkommen kann – zum Beispiel in der Erwachsenenbildung, in Umschulungen oder auch in therapeutischen Prozessen. Weber plädiert hier für ein erweitertes Verständnis von Erziehung über das Kindesalter hinaus.
Ab S. 234 geht Weber auf die spannende Frage ein, ob und wie man Erziehung wertfrei definieren kann. Dabei unterscheidet er – wie zuvor Brezinka – zwischen deskriptiven und normativen Erziehungsbegriffen. Während deskriptive Definitionen versuchen, Erziehung möglichst neutral zu beschreiben (z. B. im Sinne behavioristischer Reiz-Reaktions-Modelle), enthalten normative Definitionen immer auch Vorstellungen davon, was „gute“ Erziehung sein soll. Hier verweist Weber auf die Schwierigkeit, dass auch scheinbar wertfreie Modelle oft implizite Normen enthalten – etwa über das Menschenbild oder das Ziel von Erziehung.
Im letzten Teil (S. 247–249) stellt Weber schließlich drei aktuelle Definitionen von Erziehung vor. Die erste stammt erneut von W. Brezinka, der einen wertneutral-deskriptiven Begriff vorschlägt, der objektiv beschreibbar sein und sich an empirischer Forschung orientieren soll (S. 247). Die zweite Definition stammt von H. Heid, der in einem handlungs- und erfolgstheoretischen Ansatz betont, dass Erziehung nur dann gegeben sei, wenn Absicht und Wirkung zusammenkommen – also wenn eine beabsichtigte Handlung auch tatsächlich eine erzieherische Wirkung zeigt (S. 249). Den dritten Vorschlag formuliert Weber selbst: Er plädiert für eine doppelte Definition, die sowohl eine wertfreie (deskriptive) als auch eine wertgebundene (normative) Dimension umfasst. Für ihn gehört es zum pädagogischen Selbstverständnis, normative Ideen wie Mündigkeit oder Selbstbestimmung als Richtgrößen mitzudenken.
Fazit: Was ist Erziehung?
Erziehung ist ein vielschichtiger, kontextabhängiger Prozess, der sowohl bewusst geplant als auch unbewusst beeinflusst sein kann. Sie hat das Ziel, Menschen zur Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme und moralischem Handeln zu befähigen – nicht durch Zwang, sondern durch Dialog und Achtung ihrer Würde.
Heitger, M. (2015). Erziehung. In G. Reinhold (Hg.), Pädagogik-Lexikon (S. 139 -144). R. Oldenbourg Verlag.
Dieser Text entfaltet eine differenzierte und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erziehung in der gegenwärtigen Pädagogik. Er beleuchtet Spannungsfelder zwischen Freiheit und Zwang, Subjektivität und gesellschaftlicher Normativität sowie zwischen dialogischer Offenheit und tradierten Werteordnungen.
Zentrale Gedanken im Überblick:
- Ambivalenz des Erziehungsbegriffs:
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Einerseits wird Erziehung als Herrschaftsausübung kritisiert (z. B. von der Antipädagogik).
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Andererseits wird sie in einer pluralistischen Gesellschaft als notwendige Orientierungshilfe betont.
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(Heitger, M., 2015, S.140)
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Erziehung vs. Unterricht:
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Unterricht zielt auf Wissen und seine Vermittlung unter Geltungsanspruch.
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Erziehung hingegen richtet sich auf das Subjekt, seine Haltung und sein Verhalten – also auf das „Wie“ des Umgangs mit Wissen.
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(Heitger, M., 2015, S.140)
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Erziehung und Freiheit:
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Die Erziehung muss die Freiheit des Subjekts achten, um nicht zur Manipulation oder Machtausübung zu werden.
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Daraus folgt die dialogische Grundstruktur der Erziehung: Nur in einem gleichberechtigten Dialog können Werte vermittelt werden.
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(Heitger, M., 2015, S.141)
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Wertorientierung statt Wertindoktrination:
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Erziehung ist nicht wertfrei, doch sie darf dem anderen kein festes Wertesystem aufzwingen.
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Vielmehr geht es um das Lernen verantwortlichen Bewertens.
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(Heitger, M., 2015, S.141)
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Zwang in der Erziehung – eine notwendige Dialektik:
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Zwang ist nur dann gerechtfertigt, wenn er Schaden abwendet oder Moralität anbahnt – nie als bloßes Machtmittel.
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Der berühmte Kant-Satz wird aufgegriffen: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“
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(Heitger, M., 2015, S.142)
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Selbstbestimmung als Ziel:
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Der Mensch wird als freies, sich selbst bestimmendes Wesen verstanden.
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Erziehung soll nicht normativ „formen“, sondern die Bedingungen schaffen, unter denen Selbstbestimmung gelingen kann.
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(Heitger, M., 2015, S.143)
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Erziehung als inter- und intrapersonaler Dialog:
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Ziel ist, dass der äußere Dialog zwischen Erziehendem und Kind in einen inneren Dialog des Subjekts mit sich selbst mündet.
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Dies ist Bedingung für echtes moralisches Handeln.
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(Heitger, M., 2015, S.143)
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Erziehung in Zeiten des Wertpluralismus:
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Gerade in einer pluralen Gesellschaft ist Erziehung notwendig, um Orientierung zu ermöglichen.
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Traditionen und Bräuche sollen nicht autoritativ vermittelt, sondern in ihrer Wertigkeit kritisch verdeutlicht werden.
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(Heitger, M., 2015, S.143)
Zur Bedeutung des Textes
Dieser Text bietet eine fundierte anthropologisch-ethische Grundlage für eine moderne, dialogische Pädagogik. Er wendet sich gegen autoritäre, technokratische oder rein funktionale Erziehungsmodelle und formuliert ein pädagogisches Verständnis, das die Würde und Freiheit des Menschen ins Zentrum stellt.