Gudjons, H. & Traub, S. (2020). Pädagogisches Grundwissen: Überblick - Kompendium - Studienbuch (13. Aufl.). utb Pädagogik: Bd. 3092. UTB GmbH; Klinkhardt. 159–162
Sozialisation ist nicht bloße Anpassung - sondern eine "dynamische Person-Umwelt-Beziehung" (Hurrelmann/Grundmann/Walper zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
Es gibt nicht DIE Sozialisation - sondern "sozialisationstheoretische Fragestellungen" (Hurrelmann/Ulich zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
-> "Sozialisation ist ein begriffliches Konstrukt, ein Bündel von theoretischen Fragen und Problemstellungen, das sich in analytischer Absicht mit einem nicht unmittelbar beobachtbaren Ausschnitt der Realität beschäftigt" (Gudjons & Traub, 2020, S. 159).
Definition
„Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der
biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen
Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen
auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen“ (Hurrelmann/Grundmann/Walper zit. nach Gudjons & Traub, 2020, S. 160)
Sozialisationsebenen nach Hurrelmann (1988)
Der deutsche Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann (geb. 1944) unterscheidet drei Ebenen der Sozialisation:
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Primäre Sozialisation
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Findet in der frühen Kindheit, vor allem in der Familie statt.
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Kinder lernen z. B. Grundverhalten, Sprache, erste Regeln.
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Sekundäre Sozialisation
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Passiert z. B. in Kita, Schule, Freundeskreis.
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Kinder lernen neue Rollen kennen, etwa als Schüler*in oder Teammitglied.
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Tertiäre Sozialisation
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Betrifft das Erwachsenenalter, z. B. durch Beruf, Medien, Politik.
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Menschen müssen sich immer wieder an neue Lebensphasen anpassen.
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Strukturelle Bedingungen der Sozialisation
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Bestimmte gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen die Sozialisation stark, z. B.:
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Soziale Herkunft (z. B. arm oder reich)
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Bildungschancen
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Geschlecht
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Medien
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Kulturelle Normen
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Menschen haben nicht alle dieselben Chancen – soziale Ungleichheit wirkt sich auf Sozialisation aus.
Struktur der Sozialisationsbedingungen (Tillmann 2000/2010)
Grundidee:
Das Modell beschreibt, wie die Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums (das „Subjekt“) durch verschiedene gesellschaftliche Ebenen beeinflusst wird – und umgekehrt. Es verdeutlicht, dass Sozialisation nicht linear oder einseitig, sondern vermittelt und wechselseitig stattfindet.
Vier Ebenen des Modells (von außen nach innen):
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Gesamtgesellschaft (Ebene 4):
Dazu gehören grundlegende gesellschaftliche Strukturen – etwa die ökonomische, soziale, politische und kulturelle Ordnung. Sie schaffen den übergeordneten Rahmen für alle Sozialisationseinflüsse. -
Institutionen (Ebene 3):
Diese gesellschaftlichen Einrichtungen (z. B. Schulen, Medien, Kirchen, Militär, Betriebe) vermitteln die Werte, Normen und Regeln der Gesellschaft an die Individuen. Sie wirken als Filter zwischen Gesellschaft und Alltag. -
Interaktionen und Tätigkeiten (Ebene 2):
Dies sind konkrete zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Handlungen – z. B. Eltern-Kind-Kommunikation, Unterricht, Freundschaften. Hier findet direkte persönliche Sozialisation statt. -
Subjekt (Ebene 1):
Das Individuum, das durch Erfahrungen, Wissen, emotionale Muster, kognitive Fähigkeiten usw. seine Persönlichkeit formt. Es ist nicht passiv, sondern verarbeitet aktiv die Einflüsse der Umwelt.
Wechselseitigkeit:
Die Pfeile im Modell zeigen, dass jede Ebene auf die jeweils andere zurückwirken kann:
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Nicht nur „die Gesellschaft formt das Subjekt“,
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sondern das Subjekt kann durch Handlungen, Entscheidungen, Widerstand oder Innovation auch Gesellschaft, Institutionen und Interaktionen beeinflussen.
Fazit zum Modell:
Das Modell veranschaulicht die komplexe Vermittlungsstruktur von Sozialisation. Es unterstreicht, dass Sozialisation nicht als bloße Anpassung zu verstehen ist, sondern als dynamischer Prozess zwischen individueller Aktivität und sozialer Umwelt.
Verhältnis von Sozialisation und Erziehung
Begriffliche Abgrenzung:
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Sozialisation ist ein weiter gefasster Begriff. Er bezeichnet alle Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen – ob beabsichtigt oder nicht, bewusst oder unbewusst.
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Erziehung ist ein Teilbereich der Sozialisation. Sie ist gekennzeichnet durch gezielte, geplante, bewusste Handlungen mit dem Ziel, bestimmte Entwicklungen zu fördern.
Zentrale Unterscheidung (vgl. S. 162):
„Während der Sozialisationsbegriff ein breites Interaktionsgeschehen beinhaltet, werden mit Erziehung (nur) ‚die Handlungen und Maßnahmen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluss zu nehmen, um sie nach bestimmten Wertmaßstäben zu fördern … also die bewussten und geplanten Einflussnahmen‘“
(Hurrelmann 1998, 14, zitiert nach Gudjons & Traub, 2020, S. 162)
Zusammenhang:
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Jede Erziehung ist Teil von Sozialisation.
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Aber nicht jede Sozialisation ist Erziehung.
(z. B. wirkt das Verhalten von Peers oder Medien oft stark, aber unbeabsichtigt)