Bildungsbenachteiligung – wenn soziale Merkmale zu Bildungshindernissen werden

In der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit wird immer wieder deutlich: Nicht alle Kinder und Jugendlichen haben die gleichen Chancen auf schulischen Erfolg. Bildungsbenachteiligung zeigt sich besonders bei bestimmten sozialen Merkmalen – etwa beim Geschlecht, beim sozioökonomischen Status oder beim Migrationshintergrund. Diese Merkmale wirken dabei nicht isoliert, sondern häufig kumulativ: Je mehr solcher Merkmale zusammenkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Bildungshürden erfährt und in seiner schulischen Laufbahn benachteiligt wird.

Das zentrale Problem dabei ist: Diese Merkmale sagen nichts über die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines Kindes aus. Sie sind per se nicht problematisch, sondern Ausdruck individueller Vielfalt in einer pluralen Gesellschaft. Problematisch werden sie jedoch dann, wenn sie systematisch mit Nachteilen im Bildungssystem verknüpft sind,  etwa durch Vorurteile, stereotype Erwartungen oder strukturelle Barrieren.

 

Die Rolle der Schule – Wie kann sie Bildungsbenachteiligung entgegenwirken?

Die Schule steht in der Verantwortung, diesen Ungleichheiten nicht nachzugeben, sondern aktiv gegen sie zu arbeiten. Ein zentraler Schritt ist dabei die Vermeidung von Geschlechterstereotypen, etwa in Unterrichtsmaterialien, Lehrplänen oder Rollenbildern. Studien wie die von Neuschwander, Rösti, Prieth und Zavery (2024) zeigen auf, dass Geschlechterdarstellungen in Schulbüchern oftmals klischeehaft und unausgewogen sind – ein Befund, den auch das Georg-Eckert-Institut regelmäßig bestätigt. Solche Darstellungen prägen unbewusst die Erwartungen an Kinder und können deren Selbstbild sowie Bildungswege langfristig beeinflussen.

Besonders deutlich wird soziale Ungleichheit an den sogenannten Bildungsübergängen, etwa beim Wechsel von der Grundschule auf weiterführende Schulen. Hier entscheiden oft nicht nur die Leistungen, sondern auch elterliche Ressourcen, Bildungsnähe und Erwartungen über den weiteren Bildungsweg. In der Theorie der rationalen Entscheidung (vgl. Boudon) wird dies mit dem Konzept des „Shadow of the Future“ erklärt: Familien investieren in Bildung, wenn sie sich davon langfristig Nutzen versprechen – doch dieser Nutzen ist zeitlich verzögert und von vielen Faktoren abhängig. Gerade Kinder aus bildungsfernen Haushalten sind hier benachteiligt, weil die Bildungskarriere oft als unsicher oder wenig lohnend erscheint.

 

Bildungseinrichtungen im Spannungsfeld – Schule als Kompromiss, Universität als Freiheitsraum?

Die Schule bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Selektion, Förderung und Chancengleichheit. Sie kann nicht alle sozialen Benachteiligungen ausgleichen, aber sie kann Strukturen schaffen, die faire Bildungschancen ermöglichen – etwa durch individuelle Förderung, diskriminierungssensible Pädagogik oder transparente Übertrittsregelungen.

Während die Schule oft als Ort der Regelhaftigkeit und Anpassung wahrgenommen wird, gilt die Universität traditionell als Raum der Freiheit, Reflexion und Selbstbestimmung. Doch auch sie ist nicht frei von Zugangsbarrieren – weshalb Bildungsgerechtigkeit nicht an der Schulzeit enden darf, sondern lebenslang gedacht werden muss.

Gräsel, C. & Gniewosz, B. (2015). Überblick soziale Ungleichheit. In H. Reinders (Hg.), Empirische Bildungsforschung: Strukturen und Methoden (2. Aufl.). Springer VS, S. 195-1999

Empirische Befunde zu sozialer Ungleichheit im Bildungssystem

Zentrale Studie: Ländervergleichsstudie der KMK 2009

Die dargestellten Befunde basieren auf einer bundesweiten groß angelegten Leistungsstudie, die 2009 im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) durchgeführt wurde. Ziel war die empirische Überprüfung der Bildungsstandards in Deutsch und Englisch bei SchülerInnen der 9. Jahrgangsstufe.

  • TeilnehmerInnen: ca. 35.000 NeuntklässlerInnen aus allen 16 Bundesländern

  • Testinhalte: Hörverstehen, Leseverstehen und Orthografie (Deutsch und Englisch)

  • Orientierung: Aufgabenentwicklung auf Basis der KMK-Bildungsstandards

Zentrale Befunde zu Bildungsungleichheiten

1. Geschlechterdifferenzen

  • Mädchen zeigten bundesweit bessere Leistungen, besonders in Orthografie und Lesekompetenz.

  • Mögliche Erklärung: höhere Gymnasialquote → lernförderlichere Lernumgebung.

2. Migrationshintergrund

  • SchülerInnen mit Migrationshintergrund hatten im Durchschnitt niedrigere Kompetenzen.

  • Diese Unterschiede sind oft intersektional zu betrachten (z. B. zusammen mit geringem Sozialstatus).

3. Soziale Herkunft

  • Starker Einfluss des sozioökonomischen Status der Eltern auf die Schulleistungen:

    • 9,7 % der Varianz in orthografischer Kompetenz

    • 12,2 % der Varianz in Lesekompetenz lassen sich dadurch erklären.

4. Regionale Unterschiede

  • Erhebliche Leistungsdifferenzen zwischen den Bundesländern, auch bei Kontrolle sozialer Merkmale.

  • Hinweis auf regionale Disparitäten im Bildungssystem.

Begriff der sozialen Ungleichheit (nach Hradil, 2001)

"Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den 'wertvollen Gütern' einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten" (Hradil, 2001, S.30).

Im Bildungssystem zeigt sich dies z. B. in:

  • Unterschiedlicher Schulwahl bei gleicher Leistung

  • Benachteiligung beim Übergang auf weiterführende Schulen

Soziale Gruppen

  • Differenzierung nach:

    • Geschlecht

    • Migrationshintergrund

    • sozioökonomischem Status

    • regionaler Herkunft

Geschlechterungleichheit im Berufsleben

  • Trotz besserer Bildungsabschlüsse sind Frauen unterrepräsentiert in Führungspositionen.

  • Dies gilt international und zeigt strukturelle Barrieren im Beschäftigungssystem.

Fazit

Die KMK-Studie von 2009 zeigt eindrücklich, dass der Bildungserfolg in Deutschland nicht nur von individueller Leistung, sondern maßgeblich von sozialen und regionalen Faktoren abhängt. Die Ergebnisse belegen eine strukturell verankerte soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem.

Soziale Ungleichheit nach Ludwig Hradil (2006) und der sozioökonomische Status als Faktor im Bildungssystem

Soziale Ungleichheit ist ein zentrales Analysekonzept der Soziologie und spielt auch im Bildungssystem eine zentrale Rolle. Ludwig Hradil bietet in seinem Beitrag in "Soziologie – Einführung in die Grundlagen und Forschungsergebnisse" (2006) eine differenzierte Grundlage für das Verständnis dieses Begriffs. Insbesondere seine drei Definitionskriterien sowie die vier Strukturebenen sozialer Ungleichheit sind zentral für die Analyse gesellschaftlicher Benachteiligung. In Kombination damit stellt der sozioökonomische Status (SES) eine besonders relevante Determinante für Bildungsungleichheit dar.

 

Was ist soziale Ungleichheit? (vgl. Hradil 2006, S. 19–22)

Hradil definiert soziale Ungleichheit als systematisch und dauerhaft ungleich verteilte Chancen auf zentrale gesellschaftliche Ressourcen. Diese Unterschiede sind nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich erzeugt und strukturell verankert. Sie betreffen z. B. Einkommen, Bildung, Macht, Prestige oder Gesundheitschancen.

Die drei Definitionskriterien (S. 20–22):

  1. Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen, nicht zwischen Individuen: Soziale Ungleichheit liegt nur dann vor, wenn systematische Unterschiede zwischen sozialen Gruppen bestehen, z. B. zwischen Bildungs- oder Einkommensgruppen. Einzelne Abweichungen zwischen Individuen gelten nicht als soziale Ungleichheit.

  2. Ungleichverteilung gesellschaftlich relevanter Ressourcen: Es geht um knappe und begehrte Güter wie Bildung, Einkommen, Wohnraum oder Gesundheit. Unterschiede in beliebigen Merkmalen (z. B. Musikgeschmack) begründen keine soziale Ungleichheit.

  3. Strukturelle Verankerung und Dauerhaftigkeit: Unterschiede müssen regelhaft, über längere Zeit hinweg bestehen und reproduziert werden. Wenn Kinder aus bestimmten Milieus über Generationen hinweg geringere Bildungschancen haben, ist dies Ausdruck verfestigter sozialer Ungleichheit.

 

Die vier Strukturebenen sozialer Ungleichheit (vgl. Hradil 2006, S. 29)

  1. Ursachen: Mechanismen wie wirtschaftliche Ausbeutung, funktionale Differenzierung oder Diskriminierung können Ungleichheit erzeugen und stabilisieren.

  2. Determinanten: Soziale Merkmale wie Beruf, Geschlecht, Alter oder Wohnort, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu Vor- oder Nachteilen führen. Sie erzeugen nicht selbst Ungleichheit, wirken aber strukturierend.

  3. Dimensionen: Lebensbereiche, in denen sich Ungleichheit manifestiert. Dazu zählen:

    • Klassisch: Einkommen, Macht, Prestige

    • Modern: Bildung, Gesundheit, Freizeit, Wohnbedingungen

  4. Wirkungen: Ungleichheit wirkt sich auf Lebensqualität, Konsummöglichkeiten, Gesundheitsverhalten, Selbstwert, Motivation und kulturelle Teilhabe aus. Sie kann soziale Isolation und Bildungsdistanzierung verstärken.

 

Bewertung sozialer Ungleichheit (vgl. Hradil 2006, S. 22–25)

Hradil diskutiert zwei Gerechtigkeitskonzepte:

  • Leistungsgerechtigkeit: Ungleichheit ist gerechtfertigt, wenn sie auf unterschiedlicher Leistung basiert.

  • Chancengleichheit: Alle Menschen sollen gleiche Startvoraussetzungen haben. Dies ist besonders in Bildungskontexten relevant.

Soziale Ungleichheit wird dann problematisch, wenn sie nicht auf Leistung, sondern auf Herkunft, Geschlecht oder Diskriminierung beruht.

 

Der sozioökonomische Status (SES) als Determinante sozialer Ungleichheit im Bildungssystem

Der SES ist ein klassisches Beispiel für eine Determinante im Sinne Hradils. Er setzt sich aus drei zentralen Komponenten zusammen:

  • Bildungsniveau der Eltern

  • Beruflicher Status

  • Einkommen bzw. materielle Lage des Haushalts

Ein niedriger SES liegt vor, wenn in einem oder mehreren dieser Bereiche Benachteiligung besteht. Studien wie IGLU und PISA zeigen deutlich: Kinder aus niedrigen SES-Familien haben geringere Bildungschancen, geringere Bildungsaspirationen, schwächere Schulleistungen und schlechteren Zugang zu kulturellem Kapital.

 

Warum ist SES-bedingte Bildungsungleichheit soziale Ungleichheit? (vgl. Hradil S. 20–22)

Die Benachteiligung von Kindern mit niedrigem SES im Bildungssystem erfüllt alle drei Definitionskriterien Hradils:

  1. Gruppenbezogenheit: Der SES beschreibt sozialstrukturelle Gruppen (z. B. Kinder aus Arbeiterhaushalten vs. Akademikerhaushalten).

  2. Ressourcenbezug: Bildung ist eine zentrale Ressource für gesellschaftliche Teilhabe. Bildungserfolg entscheidet über Lebensqualität, Beruf, Einkommen.

  3. Dauerhaftigkeit: Bildungsungleichheit ist empirisch über Jahrzehnte hinweg nachweisbar und wird über Generationen hinweg reproduziert.

 

Bezug zu Bourdieus Kapitaltheorie

Der SES kann im Sinne Bourdieus als Zusammenspiel von Kapitalformen verstanden werden:

  • Ökonomisches Kapital: z. B. Nachhilfe, Freizeitangebote

  • Kulturelles Kapital: Sprachfähigkeit, Bildungshabitus

  • Soziales Kapital: Netzwerke, Unterstützungssysteme

Kinder mit niedrigem SES starten mit weniger Kapital in das Bildungssystem, was strukturelle Benachteiligung erzeugt und Ungleichheit verstärkt.

Ditton, H. & Maaz, K. (2022). Sozioökonomischer Status, Bildungserfolg und Bildungsteilhabe. In H. Reinders (Hg.), Empirische Bildungsforschung: Eine elementare Einführung (1. Aufl., S. 1083-1103). Springer VS. 

Grundbegriffe und Erhebungsverfahren

 

Sozialer Status (Definition): “Mit dem Begriff Sozialer Status wird die Position bezeichnet, die eine Person innerhalb einer Rangordnung der gesellschaftlich vorhandenen Position einnimmt. Die Einordnung in die gesellschaftliche Hierarchie bezieht sich auf die Wertschätzung, die einer Position hinsichtlich gesellschaftlich relevanter Merkmale (z.B. Einkommen, Besitz, Macht) beigemessen wird.”

(Ditton & Maaz In Reinders (2022), S. 1083) 

 

  • Der sozioökonomische Status (SES) wird in der Bildungsforschung meist indikatorenbasiert über Beruf, Bildungsniveau und Einkommen der Eltern erfasst. 
  • Messinstrumente: 
    • ISEI – gibt jeder Berufs­tätigkeit eine Zahl von 16 bis 90: je höher der Wert, desto größer Einkommen, Prestige und Bildungs­anforderungen. -> METRISCH
    • EGP-Klassen – ordnet Menschen in Berufs‑ und Beschäftigungs­gruppen (Arbeitgeber, Selbst­ständige, Fach­arbeiter …); das Ergebnis sind Kategorien statt Zahlen. -> KATEGORIAL
      • Unterscheidung in:  
        • Arbeitgeber, Selbstständige (ohne Mitarbeiter) und Arbeitnehmern 
        • Art der Tätigkeit: manuell, nicht- manuell, landwirtschaftlich 
        • Stellung im Beruf: (selbstständig, abhängig beschäftigt  
        • Weisungsbefugnis: keine, geringe, große  

Wozu das Ganze?
→ Weil sich mit diesen Kennziffern sehr gut zeigen lässt, dass Bildungschancen systematisch mit dem Elternhaus zusammen­hängen.

 

  • Neben klassischen Schichtmodellen gewinnen Milieu- und Lebensstilansätze an Bedeutung. Sie betonen subjektive Wertorientierungen und Lebensführungen (z. B. Hradil). 
  • Kritik an klassischen Schichtmodellen:  

Missachtung von:  

  • relevanten Merkmale zur Kennzeichnung der Lebenssituationen von Personen 
  • horizontaler Ungleichheiten (wie Geschlecht, Alter etc.) 
  • Pluralisierung und Individualisierung  

Ein Versuch der einfacheren Darstellung der Inhalte...


Um eine gesellschaftliche Position zu messen, braucht man zuerst ein Modell, das Gesellschaft in Schichten / Klassen gliedert (z. B. Ober‑, Mittel‑, Unterschicht oder ArbeitgeberIn vs. ArbeitnehmerIn). Ohne dieses Raster könnte man die Position gar nicht verorten.

Es gibt zwei technische Wege, den Platz einer Familie im Schichtmodell festzunageln:

  1. Kontinuierlich (metrisch) – man vergibt Punkte auf einer Skala. Beispiel: ISEI = 72 für eine Ärztin.

  2. Kategorial (klassenbasiert) – man ordnet Menschen Schubladen zu. Beispiel: „selbstständiger Handwerker ohne Mitarbeiter“ = EGP‑Klasse IV.

Beide Varianten erfüllen denselben Zweck, aber sie liefern unterschiedliche Datentypen (Zahl vs. Kategorie) und erlauben verschiedene statistische Auswertungen.

Wenn man die so gebildeten Schichten miteinander vergleicht, zeigt sich durchweg: Kinder aus höheren Schichten – ganz gleich, ob man sie über ISEI‑Punkte oder EGP‑Klassen definiert – gehen häufiger aufs Gymnasium, erreichen höhere Abschlüsse und schneiden in Tests besser ab als Kinder aus niedrigeren Schichten.

ISEI

= International Socio-Economic Index of Occupational Status
(Internationaler sozioökonomischer Statusindex für Berufe)

Erfassung des sozioökonomischen Status

(Findet vor allem Verwertung in international vergleichenden Schulleistungsstudien (vgl. PISA; IGLU -> basiert auf Angaben zu Beruf, Einkommen, Bildungsniveau der Eltern

Kurz hierzu: 

PIS: ESCS-Index (Index of economic, social an cultural status)

  • bestehend aus:
    • ISCED (Bildungsabschluss der Eltern)
    • HISEI (berufliche Stellung (SES der Eltern))
    • HOMEPOS (häusliche Besitztümer))

 

  • Entwickelt von Harry B. Ganzeboom u. a.

  • Ziel: Berufe nach ihrem sozialen Status vergleichbar machen – international und unabhängig vom Bildungssystem.

  • Berücksichtigt v. a. Bildungsanforderungen und Einkommen, die mit einem Beruf verbunden sind.

  • Ergebnis: Eine metrische Skala von 16 bis 90, z. B.

    • Reinigungskraft ≈ 16

    • Verkäufer ≈ 33

    • Lehrer ≈ 69

    • Richter ≈ 90

EGP

= Erikson–Goldthorpe–Portocarero-Klassenschema (Erikson, 1979/2002)

Erfassung der sozialen Herkunft 

  • Ein kategoriales Klassifikationssystem für soziale Klassen.

  • Entwickelt von Robert Erikson, John Goldthorpe und Lucienne Portocarero.

  • Ziel: Soziale Klassenzugehörigkeit anhand des Beschäftigungsstatus systematisch erfassen.

  • Zentrale Kriterien:

    • Art der Tätigkeit (manuell/nicht-manuell)

    • Stellung im Beruf (selbstständig, abhängig beschäftigt)

    • Weisungsbefugnis (z. B. Führungskraft oder ohne Personalverantwortung)

Beispielhafte Klassen (stark vereinfacht):

  • I: höhere Dienstklasse (z. B. Akademiker mit Führungsaufgaben)

  • II: untere Dienstklasse

  • III: Routineangestellte

  • IV: Selbstständige

  • V: Facharbeiter

  • VI: ungelernte Arbeiter usw.

Sozioökonomischer Status und Bildungsteilhabe/Bildungserfolg   (S. 1086–1089) 

Kapitalformen 

Bourdieu unterscheidet vier Kapitalarten, die bestimmen, wo jemand in der Gesellschaft steht: 

  • Ökonomisches Kapital: Geld, Besitz, Einkommen. 
  • Kulturelles Kapital: Bildung, Wissen, Sprachkompetenz, kulturelle Güter. 
  • Soziales Kapital: Beziehungen, Netzwerke, „Vitamin B“. 
  • Symbolisches Kapital: Anerkennung, Prestige – oft aus den anderen Kapitalformen abgeleitet. 

Je mehr und je bestimmtere Arten von Kapital man besitzt, desto höher ist die soziale Position. 

Zwei soziale Räume 

Bourdieu entwirft ein Modell mit zwei sich ergänzenden „Räumen“: 

  • Raum der sozialen Positionen: Hier zeigt sich, wie viel Kapital eine Person besitzt. -> Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse  
  • Raum der Lebensstile: Hier zeigt sich, wie Menschen mit ihrem Kapital leben – z. B. ihre Vorlieben, Hobbys, Konsumgewohnheiten, Geschmack. 

 

Habitus 

Der Habitus ist das „verinnerlichte“ Verhalten, Denken und Wahrnehmen – er ist geprägt durch die Herkunftsfamilie und deren Kapitalstruktur. Er zeigt sich z. B. in: 

  • Sprachgebrauch, 
  • Bildungsentscheidungen, 
  • Auftreten und Verhalten. 

Der Habitus führt dazu, dass Menschen meist „automatisch“ das tun, was zu ihrer sozialen Herkunft passt – ohne bewusst darüber nachzudenken. 

 

Klassenhabitus und soziale Reproduktion 

  • Menschen mit ähnlichem Kapital entwickeln einen Klassenhabitus, also ähnliche Einstellungen, Werte und „Lebensstile“. 
  • Diese Haltung wird oft an Kinder weitergegeben (soziale Vererbung). 
  • So werden Unterschiede zwischen sozialen Klassen reproduziert, insbesondere über das Bildungssystem. 

Beispiel: Kinder aus bildungsnahen Familien haben oft einen Habitus, der gut zu Schule und Universität passt – sie werden bevorzugt, oft unbewusst. 

 

Bildungsentscheidungen und soziale Ungleichheit 

Bourdieu erklärt, warum SchülerInnen aus unteren Schichten trotz guter Leistungen seltener höhere Bildungswege wählen: 

  • Unterschiedliche Risikoeinschätzung (z. B. Angst vor dem Scheitern), 
  • Fehlende Passung zwischen Habitus und schulischer Kultur, 
  • Mangelndes kulturelles Kapital.

 

Kurze Info: Unten habe ich nochmal eine etwas differenziertere Erklärung Bourdieus Theorie aus einer anderen Quelle angefügt (Jurt, 2012; Bourdieu 1979). - Doppelt hält besser :) 

Bourdieus Theorie zeigt: 

  • soziale Ungleichheit entsteht nicht nur durch Geldmangel, sondern auch durch unsichtbare kulturelle und symbolische Strukturen. 
  • Das Bildungssystem trägt zur Reproduktion dieser Ungleichheiten bei, da es bestimmte Formen des Habitus und kulturellen Kapitals bevorzugt. 

 

Rational-Choice-Ansätze 

  • Bildungsentscheidungen beruhen auf Kosten-Nutzen-Erwägungen (z. B. nach Breen & Goldthorpe 1997). 
  • Studien zeigen: Kinder höherer Schichten verfügen über höhere Erfolgswahrscheinlichkeitserwartungen und geringere wahrgenommene Kosten. 
  • Dennoch: Jüngere Forschungen (z. B. Klinge 2016) kritisieren die Begrenztheit rationaler Erklärungsmodelle. 

Die Theorie der Frame-Selektion 

Die Theorie der Frame-Selektion geht davon aus, dass Menschen Entscheidungen nicht immer rational im klassischen Sinne treffen (wie z. B. im Rational-Choice-Modell). Stattdessen: 

  • definieren sie die Situation selbst: Sie bewerten z. B., wie wichtig oder vertraut ihnen eine Situation erscheint. 
  • Dadurch entsteht ein „Frame“ – ein Bezugsrahmen –, innerhalb dessen sie handeln. 

Dieser Frame schränkt die wahrgenommenen Handlungsoptionen stark ein. Nur bestimmte Möglichkeiten werden überhaupt als relevant angesehen. 

Entscheidungsverhalten aus Gewohnheit 

Frame-Selektionsmodelle berücksichtigen auch, dass viele Entscheidungen durch: 

  • Gewohnheiten (z. B. vertraute Verhaltensmuster), 
  • frühere Erfahrungen oder 
  • situative Routinen 

beeinflusst werden. Das heißt: Man greift auf bewährte Strategien zurück, statt alles neu zu berechnen. 

Bedeutung für Bildungsentscheidungen 

Im Kontext von Bildungsentscheidungen bedeutet das: 

  • Nicht jede Entscheidung (z. B. fürs Gymnasium) ist das Ergebnis einer nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkulation. 

  • Stattdessen greifen Eltern oder SchülerInnen oft auf vertraute Muster oder Einschätzungen zurück („Was haben wir immer gemacht?“ oder „Was machen Leute wie wir?“). 

  • Dadurch entstehen soziale Pfadabhängigkeiten, die Bildungswege strukturieren. 

Fazit 

Modelle der Frame-Selektion bieten eine realitätsnähere Erklärung für menschliches Entscheidungsverhalten: 

  • Sie anerkennen situative Einflüsse, Routinen und soziale Kontexte, 
  • und stellen damit eine wichtige Ergänzung zur rein rationalen Entscheidungstheorie dar. 

 

  1. Zentrale Forschungsbefunde (S. 1089–1098)

3.1 Bildungsbeteiligung 

  • Trotz Bildungsexpansion bleiben sozioökonomische Unterschiede stabil – insbesondere beim Zugang zum Gymnasium und zur Hochschule. 
  • Frühkindliche Bildung: 
  • Kinder aus privilegierten Haushalten besuchen häufiger Kitas und nehmen stärker an Bildungsangeboten teil (Musik, Sport etc.). 
  • Frühe Förderung beeinflusst maßgeblich die Vorläuferkompetenzen. 
  • Übergänge sind kritische Punkte: 
  • Besonders beim Wechsel Grundschule → Sekundarstufe kommt es zu Entscheidungsverzerrungen zugunsten höherer Schichten, auch bei gleichen Leistungen. 
  • Dies gilt ebenso für den Übergang Sek I → Sek II → Hochschule. 

3.2 Kompetenzerwerb 

  • Studien (PISA, IGLU, TIMSS) belegen durchgehend bessere Leistungen von Kindern mit hohem SES. 
  • Sozialer Gradient: Zusammenhang zwischen familiärem SES und Schülerleistung – gemessen z. B. über Regressionsanalysen der Lesekompetenz. 
  • Längsschnittanalysen (TOSCA) zeigen: 
  • In Sekundarstufe II sind SES-Effekte auf Leistung schwächer, wenn Schulform kontrolliert wird. 

4. Ausblick und Forschungsdesiderate (S. 1098–1103)

  • Die Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist in Deutschland außergewöhnlich stark. 
  • Frühförderung, v. a. im sprachlichen Bereich, ist essenziell. 
  • Forderung: Mehr Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen – z. B. durch Stärkung beruflicher Zugangswege zur Hochschule. 
  • Forschungsbedarf: 
  • Klärung, wie primäre und sekundäre Effekte miteinander verflochten sind (z. B. durch langfristige Vorentscheidungen). 
  • Notwendig sind Längsschnittstudien, um prozesshafte Bildungsentscheidungen zu analysieren. 

 Fazit (S. 1103) 

Soziale Ungleichheit im Bildungssystem bleibt ein strukturelles Problem mit vielfältigen Ursachen. Effektive Gegenstrategien müssen früh ansetzen, Übergänge in den Blick nehmen und soziale Kontexte differenziert berücksichtigen. 

Maaz, Baumert, Trautwein (2009). Genese sozialer Ungleichheit Kontext Schule. pdf

Der Text analysiert präzise und systematisch, wo soziale Ungleichheiten im Bildungssystem entstehen oder verstärkt werden. Dabei werden vier zentrale Bereiche identifiziert:

1. Bildungsübergänge

Theoretische Grundlage:

  • Aufbauend auf Boudon (1974): Zwei zentrale Effekte sozialer Herkunft:

    • Primäre Effekte: Unterschiedliche schulische Leistungen infolge familiärer Ressourcen (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital).

    • Sekundäre Effekte: Unterschiede im Entscheidungsverhalten (z.B. Bildungsaspiration, Risikoabwägung, Statuserhalt).

  • Wert-Erwartungs-Theorie: Bildungsentscheidungen folgen einer Kalkulation aus erwarteten Kosten, Nutzen und Erfolgswahrscheinlichkeit – sozialschichtabhängig.

Empirie:

Zahlreiche Studien zeigen, dass Kinder gleicher Leistung bei gleichem Notenniveau unterschiedliche Übergangsempfehlungen erhalten.

 

PISA 2000 (Baumert & Schümer, 2001):

  • Kinder aus der oberen Dienstklasse hatten bei gleicher Leistung etwa dreimal höhere Chancen, ein Gymnasium zu besuchen als Kinder aus Facharbeiterfamilien (odds ratio = 2,9).

IGLU 2006 (Arnold et al., 2007):

  • Kinder mit Eltern mit Abitur hatten 2,64-mal höhere Chancen auf eine Gymnasialempfehlung (bei Kontrolle der Lesekompetenz und kognitiven Fähigkeiten).
  • Die elterliche Präferenz für das Gymnasium war sogar 3,83-mal so hoch wie bei Eltern mit Hauptschulabschluss.

 

2. Innerhalb von Bildungsinstitutionen

Theoretische Grundlage:

  • Bourdieu (1971): „Misfit“ zwischen schulischem Habitus und kulturellem Kapital benachteiligter Schichten.

  • Drei Argumentationslinien:

    • (1) Sozial selektive Erwartungs- und Anerkennungsstrukturen.

    • (2) Habitus-Diskrepanzen (z.B. Sprachcodes).

    • (3) Akkumulation kleiner Anfangsunterschiede durch differenzielle Ressourcennutzung (Matthew-Effekt).

Empirie:

  • Längsschnittstudien (z. B. BIJU, PISA) zeigen: Kein signifikanter Lernzuwachs in Abhängigkeit vom sozialen Status, wenn Vorwissen kontrolliert wird.

  • Studien deuten eher auf familienbezogene Faktoren (z. B. Unterstützung) als auf schulinterne Selektionsmechanismen hin.

  • Bourdieu-Theorie nicht obsolet, aber differenziert zu betrachten: Schulform und Lehrerhintergrund entscheidend.

3. Zwischen Bildungsinstitutionen / Schulformen

Theoretische Grundlage:

  • Explizites Tracking (z. B. deutsche Schulformtrennung) führt zu sozial homogeneren Lerngruppen.

  • Zweistufiger Effekt:

    1. Soziale Segregation durch unterschiedliche Bildungsentscheidungen.

    2. Unterschiedliche Lernumwelten in Schulformen mit unterschiedlichem Zuwachs.

Empirie:

  • Gymnasien zeigen höhere Kompetenzzuwächse als andere Schulformen – auch bei Kontrolle des Vorwissens (Schereneffekt).

  • Unterschiedliche Befunde in verschiedenen Studien, aber besonders für Mathematik gesichert.

  • Auch Kompositionseffekte (z. B. Peer-Gruppen, Unterrichtskultur) relevant.

  • Struktur trägt zur Verfestigung sozialer Unterschiede bei.

4. Außerhalb des Bildungssystems

Theoretische Grundlage:

  • Primäre Herkunftseffekte bereits vor Schulbeginn wirksam (z. B. Sprache, Kognition).

  • Entwicklungsmilieus in Familie und Nachbarschaft prägen Bildungskarrieren.

Empirie:

  • „Summer setback“-Studien (USA):
    • Alexander et al. (2001, 2007): Während der Sommerferien zeigen sich deutliche Kompetenzverluste bei Kindern aus einkommensschwachen Familien.
    • Schulzeit selbst wirkt relativ ausgleichend – Ungleichheiten entstehen v. a. in der Freizeit.
  • Weitere Studien: Reardon (2003), Morgan et al. (2008) bestätigen diese Effekte mit US-Daten.

 

Übergreifendes Fazit:

  • Soziale Ungleichheit im Bildungssystem ist multikausal bedingt.

  • Bildungsübergänge, institutionelle Struktur, innerinstitutionelle Prozesse und außerschulische Faktoren wirken zusammen.

  • Besonders sekundäre Herkunftseffekte sind bildungspolitisch problematisch, da sie nicht leistungsbasiert sind und Gerechtigkeitsnormen verletzen.

  • Maßnahmen wie verlängerte Grundschulzeit, standardisierte Leistungstests, verpflichtende Elternberatung könnten zur Reduktion von Disparitäten beitragen.

Stanat, P. & Edele, A. (2022). Zuwanderung und soziale Ungleichheit. In H. Reinders (Hg.), Empirische Bildungsforschung: Eine elementare Einführung (1. Aufl., S. 1105-1126). Springer VS.

Begriffsklärung und Kontextualisierung

(S. 1105–1106)

Personen mit Zuwanderungshintergrund umfassen sowohl selbst Eingewanderte als auch in Deutschland geborene Menschen, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind. In der Bildungsstatistik und Forschung werden sie jedoch häufig als eine relativ homogene Gruppe behandelt, obwohl große Unterschiede in Herkunft, sozialem Status, Sprachkompetenz und Aufenthaltsstatus bestehen. Der Zuwanderungshintergrund gilt als ein relevanter Aspekt bei der Erklärung von Bildungsungleichheiten in Deutschland.

Migrationsformen und ihre Relevanz für Bildung (S. 1107–1109)

Fünf Haupttypen von Migration sind für die Bildungsforschung bedeutsam:

  1. Klasse Arbeitsmigration seit den 1950er-Jahren (z. B. aus der Türkei, Italien),
  2. Neue Arbeitsmigration und Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten,
  3. Aussiedler und Spätaussiedlerzuzug aus osteuropäischen Ländern,
  4. Flucht- und Asylmigration, insbesondere seit den 1990er-Jahren und verstärkt ab 2015,
  5. Familiennachzug als migrationsrechtlich regulierte Form der Zuwanderung.

Die Vielfalt dieser Gruppen führt zu unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Bildung und sozialer Integration. Besonders stark wirkt sich der Aufenthaltsstatus auf Teilhabechancen aus (z. B. Zugang zu Bildungseinrichtungen, Sprachförderung, Arbeitsmarkt).

Methodische Zugänge zu Bildungsungleichheit

(S. 1110–1111)

Groß angelegte Schulleistungsstudien (z. B. PISA, IGLU) liefern Daten zu Kompetenzunterschieden zwischen Schüler*innen mit und ohne Zuwanderungshintergrund. Diese Querschnittsstudien erlauben aber keine Kausalaussagen (Sonderfall – Längsschnittstudie NEPS): Seit 2009 – längsschnittliche Daten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsentscheidungen und Bildungsverläufen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen). Um Ursachen genauer zu analysieren, sind kontrollierte Interventionsstudien oder quasi-experimentelle Designs erforderlich, die z. B. gezielte Sprachförderprogramme oder schulische Maßnahmen evaluieren.

Zuwanderungsbezogene Disparitäten

(S. 1112–1115)

Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund zeigen in aggregierten Daten tendenziell niedrigere schulische Leistungen (vgl. hierzu IQB-Bildungstrend 2016 – ViertklässlerInnen mit Zuwanderungshintergrund erzielten in allen Kompetenzbereichen geringere Leistungen (als MitschülerInnen ohne Zuwanderungshintergrund) – ebenfalls neunte Jahrgangsstufe (IQB 2015/2019)). Unterschiede bestehen nicht nur im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte, sondern auch zwischen den Herkunftsgruppen: So erreichen Jugendliche türkischer und arabischer Herkunft im Schnitt niedrigere Kompetenzen als z. B. Jugendliche aus Südosteuropa oder osteuropäischen Staaten.

Schulzufriedenheit, soziale Eingebundenheit und Lernfreude

Trotz objektiver Benachteiligungen berichten viele Schüler*innen der vierten Jahrgangsstufe mit Zuwanderungshintergrund über eine positive Schulwahrnehmung und hohe Lernfreude (Die Einschätzung der SchülerInnen der neunten Klasse sind geringfügig schlechter – insgesamt aber zufrieden).

Bildungsbeteiligung

  • Trotz guter sozialer Integration in der Schule bestehen deutliche zuwanderungsbezogene Disparitäten bei Bildungsbeteiligung und -abschlüssen.
  • Kinder mit Zuwanderungshintergrund sind frühkindlich und schulisch benachteiligt, z. B. bei der Nutzung von Kindertageseinrichtungen und dem Besuch weiterführender Schulen.

Beispiele:

  • Nur 21 % der unter 3-Jährigen mit Zuwanderungshintergrund besuchten 2019 eine Kita, gegenüber 42 % ohne (Bildungsberichterstattung 2020).
  • 30 % der Neuntklässler*innen mit Zuwanderungshintergrund besuchen ein Gymnasium, gegenüber 43 % ohne. In der ersten Generation liegt der Anteil sogar nur bei 16 %.

 

Schulabschlüsse

  • Junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte im Alter von 18–25 Jahren haben häufiger:
    • nur einen Hauptschulabschluss (19 % vs. 12 %),
    • seltener die allgemeine Hochschulreife (36 % vs. 44 %),
    • häufiger gar keinen Schulabschluss (9 % vs. 2 %).

Übergang in die Berufsausbildung und Aufnahme eines Studiums

Berufsausbildung:

  • Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund haben geringeres Interesse und schlechtere Realisierungschancen bei der Aufnahme einer Ausbildung.
  • 71 % der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund äußern Ausbildungswunsch, aber nur 51 % beginnen eine Ausbildung (vs. 77 % Wunsch und 64 % Umsetzung bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund).

Studium:

  • Entgegen dem Muster bei der Ausbildung nehmen Personen mit Zuwanderungshintergrund häufiger ein Studium auf als Personen ohne (75 % vs. 71 %) – bei gleichen Noten und sozialer Herkunft sogar deutlich häufiger.
  • Allerdings ist die Abbruchquote im Erststudium bei Migrant*innen höher.

Erklärungsansätze für zuwanderungsbezogene Disparitäten in Deutschland

Die Bildungsforschung identifiziert mehrdimensionale Ursachen, die sich auf drei Ressourcenarten stützen:

a) Sozioökonomisches Kapital

b) Kulturelles Kapital

c) Soziales Kapital

(Kennst du bereits aus (oben vorgestellter) Theorie von Bourdieu)

Zusätzlich werden sprachliche Barrieren und mangelnde Systemkenntnisse als spezifische Benachteiligungsfaktoren für Migrant*innen genannt.

 

Empirische Befunde zum Einfluss familiärer und individueller Hintergrundmerkmale

  • Bildungsentscheidungen sind nicht nur leistungsabhängig, sondern stark vom sozialen Hintergrund geprägt.
  • Auch bei gleicher Leistung ist die Chance auf ein Gymnasium deutlich höher für Kinder aus oberen Sozialschichten (z. B. dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für Kinder aus der Dienstklasse gegenüber Arbeiterkindern).

Kulturelle Orientierung, Erziehungsstil und Identität

  • Kulturell geprägte Werte, Erziehungsziele und Rollenvorstellungen werden als mögliche Ursachen für Bildungsungleichheiten diskutiert.
    •  B. könnten traditionelle Geschlechterrollen negative Effekte auf Bildungsverläufe von Mädchen haben (Boos-Nünning 2005).
    • Umgekehrt wird der Bildungserfolg vietnamesischer Schüler*innen mit leistungsorientierter Wertehaltung erklärt.
  • Studien zeigen: Unterschiede im Erziehungsstil hängen oft mit soziodemografischen Faktoren zusammen (z. B. Bildungsstand der Eltern), bleiben aber teils auch unabhängig bestehen.
  • Wichtig: Der Zusammenhang zwischen kulturellen Faktoren und Bildungsungleichheit ist nicht hinreichend belegt.
  • Kulturelle Identität wirkt jedoch auf Schulleistungen:
    • Nationale Identität (Gefühl der Zugehörigkeit zum Aufnahmeland) korreliert positiv mit schulischer Leistung.
    • Ethnische Identität (Bezug zur Herkunft) beeinflusst eher die psychologische Anpassung.
    • Jugendliche, die sich weder mit dem Herkunfts- noch mit dem Aufnahmeland identifizieren, schneiden besonders schlecht ab.

Zusammensetzung der SchülerInnenschaft in Schulen und Klassen

  • Hohe Anteile von Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund werden häufig mit schlechteren Leistungen in Verbindung gebracht.
  • Hauptfaktor: Soziale Zusammensetzung der Klasse, nicht der Migrationshintergrund an sich:
    • Leistungsnachteile entstehen vor allem bei hohem Anteil von Schüler*innen mit niedrigem sozioökonomischen Status oder geringem Vorwissen.
  • Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund sprechen untereinander seltener Deutsch, was den Spracherwerb hemmen kann.
  • Fazit: Entscheidend für schulischen Erfolg ist nicht die kulturelle, sondern die soziale Zusammensetzung der Lerngruppe.

Stereotype, Leistungserwartungen und Diskriminierung

  • Diskriminierung wird als ein möglicher Erklärungsansatz für Bildungsbenachteiligung diskutiert:
    • Individuelle Diskriminierung: Lehrkräfte könnten Schüler*innen mit Migrationshintergrund unbewusst anders behandeln.
    • Studien zeigen widersprüchliche Befunde: Teilweise sogar positive Diskriminierung (z. B. häufiger Gymnasialempfehlung bei gleicher Leistung).
  • Leistungserwartungen sind teils verzerrt: Lehrkräfte erwarten z. B. von türkeistämmigen Schüler*innen geringere Leistungsentwicklung (vor allem im Fach Deutsch).
  • Stereotype Threat: Das Bewusstsein, negativ stereotypisiert zu werden, kann Leistung mindern (z. B. in Prüfungen).
  • Institutionelle Diskriminierung: Strukturen des Bildungssystems benachteiligen Lernende mit Zuwanderungsgeschichte indirekt, etwa durch mangelnde Berücksichtigung sprachlicher Ausgangslagen.

Ansätze zur Überwindung zuwanderungsbezogener Bildungsnachteile

  • Zentrale Bedeutung hat das Diversitätsklima der Schule:
  • Pluralistische und egalitäre Schulklimata fördern psychische Anpassung und Wohlbefinden.
  • Sprachförderung ist zentral:
    • Viele Schüler*innen starten mit geringeren Deutschkenntnissen.
    • Bisherige Maßnahmen zur Sprachförderung zeigen oft geringe Wirksamkeit.
    • Es besteht Forschungsbedarf, wie Sprachförderung effektiv gestaltet werden kann.
  • Stärken von Schüler*innen mit Migrationshintergrund:
    • Hohe Lernfreude, Bildungsaspirationen und Motivation trotz geringerer Leistungen im Durchschnitt.
    • Förderung sollte früh ansetzen und systematisch auch andere Basiskompetenzen (z. B. Mathematik) einbeziehen.

Fazit und Implikationen

  • Zuwanderungsbezogene und soziale Disparitäten sind nachhaltig und komplex bedingt.
  • Sie verstärken sich an Übergängen im Bildungssystem (z. B. Primar- zu Sekundarstufe, Schule zu Beruf).
  • Frühförderung, verbesserte Durchlässigkeit und Berücksichtigung von Sozialisationsbedingungen gelten als zentrale Handlungsfelder zur Reduktion der Ungleichheiten

Tippelt, R. (2006). Weiterbildungs- und Erwachsenenbildungsforschung als wichtiges Segment der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung. In H. Merkens (Hrsg.), Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung (S. 109-112). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

 Historische und theoretische Einordnung 

  • Entstehung der Erwachsenenbildung im 19. Jahrhundert als soziale und pädagogische Praxis. 
  • Ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmende wissenschaftliche Systematisierung im Kontext lebenslangen Lernens. 
  • Etablierung als eigenständiger Bereich innerhalb der Erziehungswissenschaft. 

Definition und Gegenstand der Bildungsforschung 

  • Bildungsforschung laut Deutschem Bildungsrat (1970): 
    • Untersuchung von Bildungs- und Erziehungsprozessen in gesellschaftlichem Kontext. 
    • Berücksichtigung aller Altersstufen und Lernorte (formell, non-formell, informell). 
    • Fokus auch auf organisatorische und ökonomische Rahmenbedingungen. 
  • Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung gehört zur Bildungsforschung im weiteren Sinne. 

Erweiterte Perspektiven auf Weiterbildung 

  • Früher: Organisiertes Lernen nach der Erstausbildung (klassische Weiterbildung). 
  • Heute: Einbeziehung von: 
    • informellem Lernen im Alltag, 
    • Lernprozessen in der Erwerbsarbeit, 
    • kurzfristigem Anlernen und Einarbeiten. 

Ziele der Erwachsenen- und Weiterbildung 

  • Kompetenzentwicklung des Individuums 
    • Förderung von Fähigkeiten, Wissen und Selbstständigkeit Erwachsener. 
    • Unterstützung lebenslangen Lernens im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben.
  • Innovationen im ökonomischen System 
    • Beitrag zur Qualifizierung der Arbeitskräfte. 
    • Anpassung an technische, wirtschaftliche und organisatorische Veränderungen. 
    • Förderung von Innovationsfähigkeit in Unternehmen und Organisationen. 
  • Soziale Integration und Kohäsion von verschiedenen sozialen Gruppen 
    • Reduktion sozialer Ungleichheiten durch Bildungschancen. 
    • Integration benachteiligter Gruppen (z. B. durch Alphabetisierung, Sprachkurse). 
    • Förderung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität. 
  • Politische Partizipation von Bürgern 
    • Stärkung demokratischer Kompetenzen und Meinungsbildung. 
    • Förderung der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben. 
    • Bildung als Grundlage für mündige Bürger*innen. 

Interdisziplinarität der Forschung 

  • Beteiligte Disziplinen:
    • Erziehungswissenschaft 
    • Bildungssoziologie 
    • Lernpsychologie 
    • Betriebswirtschaft 
    • Arbeitspsychologie 
    • Kommunikations- und Medienwissenschaft 
  • Kooperation mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur und Sozialwesen. 

Forschungsfelder (nach Egloff/Kade 2004) 

  • Adressaten- und Teilnehmerforschung 
  • Professionsforschung (Professionalisierung der Lehrenden) 
  • Institutions- und Organisationsforschung 
  • Lehr-/Lernforschung und didaktische Forschung 

Verbindung zur Lebenslauf- und Biographieforschung 

  • Einfluss von Lebensalter, Biografie und kulturellem Kontext. 
  • Drei Ansätze: 
    • Quantitative Lebenslaufforschung (Analyse des Handels best. Akteure unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen) 
    • Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Systematische Beschreibung der Entwicklungsaufgaben und der Entwicklungskrisen (Lebenslauf – Lebens- Berufs- und Familienzyklen)) 
    • Qualitative Biographieforschung (Rekonstruktion der individuellen Entwicklung (in Differenz zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensverlaufsmuster)) 
  • Bedeutung: Berücksichtigung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren bei Bildungsmaßnahmen. 

Empirische Forschung zur beruflichen Weiterbildung 

            • Datenbankanalysen (1990er und 2005) zeigen: 
              • ca. 335 aktuelle Projekte zur beruflichen/betrieblichen Weiterbildung. 
              • Forschung erfolgt sowohl universitär als auch außeruniversitär. 
              • Viele Projekte sind interdisziplinär angelegt. 
            • Abgrenzung zwischen beruflicher und allgemeiner/kultureller Weiterbildung oft schwierig. 
            • Forschung ist theoriebasiert und empirisch fundiert, häufig in Verbundprojekten organisiert. 

            Bourdieus Kapitaltheorie (1979) – eine anschauliche Gesamterklärung (Jurt, 2012)

            Pierre Bourdieu wollte erklären, weshalb moderne Gesellschaften formell Gleichheit versprechen (Schulpflicht, Wahlrecht, offene Aufnahmetests ) und dennoch soziale Ungleichheiten erstaunlich stabil bleiben. Seine Antwort besteht aus drei ineinandergreifenden Bausteinen:

            1. Was ist der Habitus

            Der Habitus beschreibt die tief verinnerlichten Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, die Menschen im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in ihrem sozialen Umfeld erlernen – meist unbewusst.

            Diese Muster bestimmen, wie wir die Welt sehen, wie wir uns verhalten, wie wir mit Autoritäten umgehen, was wir für „normal“ halten – kurz: wie wir in der Welt handeln und fühlen, ohne bewusst darüber nachzudenken.

            Wie entsteht der Habitus?

            Der Habitus entsteht durch Sozialisation – also durch das Aufwachsen in einer bestimmten sozialen Umgebung. Schon in der Kindheit lernt ein Mensch, wie man sich in seinem sozialen Milieu „richtig“ verhält, um dazuzugehören oder „zu bestehen“. Er beobachtet, wie andere sprechen, sich kleiden, denken – und übernimmt dies unbewusst.

            Diese frühen Erfahrungen prägen ihn so stark, dass der Habitus relativ stabil bleibt, auch wenn sich die Lebensumstände ändern.

             

            Was bewirkt der Habitus?

            • Der Habitus prägt unser Verhalten und unsere Vorlieben – zum Beispiel unsere Sprache, unsere Meinung über Bildung, Geld, Familie oder Erfolg.

            • Menschen mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund entwickeln oft ähnliche Denk- und Handlungsmuster.

            • Dadurch führt der Habitus dazu, dass soziale Ungleichheiten weitergegeben werdenunabhängig von Intelligenz oder Talent.

             

            Beispiel:
            Trotz gleicher Hochschulzugangsberechtigung beginnen nur 27 von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien ein Studium, aber 79 von 100 aus Akademiker-Familien.
            → Der Habitus kann mitentscheiden, ob ein junger Mensch sich zutraut zu studieren – auch wenn er die formalen Voraussetzungen erfüllt.

            Formen des Habitus

            • Körperlicher Habitus: Wie jemand sich bewegt, Gestik, Körperhaltung (→ Hexis)

            • Kognitiver Habitus: Wie jemand denkt und urteilt

            • Ästhetischer Habitus: Was jemand mag, seinen Geschmack (z. B. in Musik, Kleidung, Essen)

            Warum ist das wichtig?

            Der Habitus hilft zu erklären, warum Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen oft so verschieden handeln, obwohl sie formal gleiche Möglichkeiten haben. Er spielt eine große Rolle in der Bildungsforschung und in der Analyse sozialer Ungleichheit.

             

             

            2. Kapital in vier Gestalten

            Bourdieu dehnt den Marx‑Begriff „Kapital“ auf alle Ressourcen aus, die sich anhäufen, vererben und in andere Formen umwandeln lassen:

            • Ökonomisches Kapital: Geld, Besitz, Erbschaften.

            • Kulturelles Kapital: verkörpertes Wissen und Geschmack (inkorporiertes (kulturelles) Kapital), Kulturgüter wie Bücher oder Gemälde (objektiviertes (kulturelles) Kapital), Zugang zu Bildungseinrichtungen (aber auch Kulturstätten) (institutionelles (kulturelles) Kapital).

            • Soziales Kapital: dauerhafte Beziehungen und Netzwerke, die Unterstützung mobilisieren können.

            • Symbolisches Kapital: das Ansehen, das jede dieser Ressourcen erhält, sobald sie öffentlich als wertvoll anerkannt wird – ein Titel, ein Ruf, ein Prestigeobjekt.

            Symbolisches Kapital wirkt wie ein Verstärker: Ein Diplom zählt nicht nur wegen der gelernten Inhalte, sondern weil es gesellschaftlich als Gütesiegel gilt.

             

            3. Soziale Felder

            Gesellschaft besteht aus vielen konkurrenz­haften Arenen (Wissenschaft, Politik, Kunst, Wirtschaft). Jedes Feld legt fest, welche Kapitalsorte dort als „Trumpf“ gilt und nach welchen Regeln gespielt wird. Akteure treten mit ihrem Habitus und ihrem Kapitalbestand ein, ringen um Positionen und versuchen, ihre Ressourcen zu vermehren oder in die passende Form umzuwandeln.

             

            Wie entsteht und bleibt Ungleichheit?

            • In der Familie lernen Kinder der Oberschicht früh Bücher, Fremdsprachen, Musikinstrumente – sie starten mit reichlich kulturellem Kapital und mit Kontakten, die Praktika oder Empfehlungsschreiben liefern.

            • Schule und Universität erscheinen neutral, sind aber auf den Habitus der Mittelschicht zugeschnitten: Sprachstil, Prüfungsform, Beispiele im Unterricht. Wer den Code schon zuhause gehört hat, sammelt leichter gute Noten und Titel, die wiederum in Netzwerke und später in Einkommen konvertiert werden können.

            • Über Konvertibilität kann man Mangel in einer Kapitalart oft ausgleichen: Geld kauft Nachhilfe (ökonomisch → kulturell), ein vornehmer Titel öffnet Türen zu Netzwerken (kulturell → sozial), ein gutes Netzwerk bringt lukrative Aufträge (sozial → ökonomisch). Anerkennung wandelt alles in symbolisches Kapital, das weitere Chancen eröffnet.

            • Diese Prozesse laufen meist unsichtbar. Bourdieu nennt das symbolische Gewalt: Hierarchien werden als „natürlich“ erlebt, nicht als Zwang – deshalb stellen sie kaum jemand offen in Frage.

             

            Wichtige Abgrenzungen

            Bourdieu wird oft für ökonomistisch gehalten, betont aber gerade, dass nicht alles auf Geld reduzierbar ist: Auch Kunst, Religion oder Wohltätigkeit folgen einer Logik des Kapitals – nur zirkuliert dort Wert in Gestalt von Ehre oder kulturellem Prestige. Gegen den Humankapital‑Ansatz der Ökonomie hebt er hervor, dass die wichtigste Bildungsinvestition unsichtbar in Familien stattfindet und dass Erfolg immer vom Zusammenspiel aller Kapitalarten abhängt.

             

            Warum das Ganze zählt

            • Bildungspolitik sollte nicht nur Schulformen angleichen, sondern frühe kulturelle Teilhabe und den Auf‑ und Ausbau sozialer Netze fördern.

            • Individuell hilft das Modell, Stärken gezielt auszubauen: Wer wenig Geld hat, kann vielleicht über Netzwerke oder einen begehrten Abschluss symbolisches Kapital gewinnen.

            • Gesellschaftskritisch macht die Theorie sichtbar, dass Ungleichheit nicht nur am Einkommen, sondern an Stilen, Körperhaltungen und dem „richtigen“ Geschmack festhängt.

             

            Kurzformel

            Habitus + Kapital → Reproduktion sozialer Ungleichheit

            So zeigt Bourdieu, dass Macht in modernen Gesellschaften weniger durch offene Barrieren als durch unsichtbare Startvorteile, kulturelle Codes und symbolische Wertzuschreibungen ausgeübt wir und warum echte Chancengleichheit weit mehr erfordert als gleiche Schulbänke.

            Wichtig in diesem Kontext...

            (Maaz, 2009)

             

            Boudons Modell der Wert-Erwartungs-Theorie unterscheidet zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten, die soziale Ungleichheit im Bildungssystem erklären. Primäre Herkunftseffekte beziehen sich auf Leistungsunterschiede, die direkt durch die soziale Herkunft verursacht werden, während sekundäre Herkunftseffekte Entscheidungen über Bildungswege beeinflussen, die unabhängig von den reinen schulischen Leistungen getroffen werden. 

             

            Primäre Herkunftseffekte:

            • Hierbei geht es um den Einfluss der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen eines Kindes.
            • Kinder aus sozial besser gestellten Familien haben oft bessere Startbedingungen und erzielen tendenziell höhere Leistungen. 
            • Diese Unterschiede können sich in besseren Noten, höheren Übergangsempfehlungen für weiterführende Schulen oder besseren Chancen auf ein Studium äußern. 
            • Ursachen können beispielsweise eine unterschiedliche Ressourcenausstattung der Familien (finanzielle Mittel, Zugang zu Bildung, Unterstützung bei den Hausaufgaben) oder unterschiedliche kulturelle Hintergründe sein. 
               
            Sekundäre Herkunftseffekte:
            • Diese Effekte beziehen sich auf die Bildungsentscheidungen, die unabhängig von den reinen Schulleistungen getroffen werden. 
            • Selbst bei gleichen schulischen Leistungen kann es Unterschiede in den Bildungsentscheidungen geben, je nachdem, welcher sozialen Schicht die Familie angehört. 
            • Kinder aus Akademikerfamilien treffen beispielsweise eher Entscheidungen für anspruchsvollere Bildungsgänge wie das Gymnasium oder ein Studium, selbst wenn ihre Noten nicht unbedingt besser sind als die von Kindern aus anderen Schichten 
            • Diese Entscheidungen werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie z.B. der Einschätzung des Nutzens von Bildung, den finanziellen Kosten der Bildung oder der Angst vor einem sozialen Abstieg. 
               
            Zusammenfassend lässt sich sagen: Boudons Modell zeigt, dass soziale Ungleichheit im Bildungssystem nicht nur durch Leistungsunterschiede entsteht (primäre Effekte), sondern auch durch Entscheidungen, die unabhängig von den tatsächlichen Leistungen getroffen werden (sekundäre Effekte). 

             

            Geschlechterungleichheiten - soziale Ungleichheit 

            In der empirischen Bildungsforschung zeigen sich deutliche geschlechterspezifische Unterschiede im Kompetenzerwerb und in der Bildungsbeteiligung. Besonders auffällig ist der Vorsprung der Mädchen im Bereich Lesekompetenz. Bei internationalen Vergleichsstudien wie IGLU/PIRLS (2016) erzielten Mädchen im Durchschnitt 543 Punkte, während Jungen auf 532 Punkte kamen. Auch in der Lesemotivation zeigen sich Unterschiede: Mädchen gaben deutlich häufiger an, außerhalb der Schule gerne zu lesen. Dieser Unterschied deutet auf eine höhere intrinsische Lesemotivation bei Mädchen hin.

            In Mathematik und den Naturwissenschaften zeigt sich ein anderes Bild: Jungen schneiden hier – wenn auch nur leicht – besser ab. In der TIMSS-Studie von 2015 erreichten Jungen in Mathematik 524 Punkte, Mädchen 520. In den Naturwissenschaften waren die Unterschiede in Deutschland statistisch nicht signifikant. Auch die PISA-Studie (2015), die die Kompetenzen von 15-Jährigen am Ende der Pflichtschulzeit erfasst, zeigt diese Tendenz: Mädchen lagen im Lesen vorn, Jungen hingegen in Mathematik und den Naturwissenschaften.

            Trotz ihrer überdurchschnittlichen Leistungen im Schulsystem stoßen Mädchen und junge Frauen im Berufsleben noch immer auf strukturelle Nachteile. Umgekehrt benötigen Jungen verstärkte Unterstützung beim selbstgesteuerten Lernen sowie beim Ausbau ihrer Lesekompetenz. Auch fällt auf, dass Mädchen ihre Fähigkeiten – besonders in traditionell männlich geprägten Fächern wie Mathematik oder Technik – häufig unterschätzen. Dies hängt eng mit gesellschaftlichen Rollenvorstellungen zusammen, die im Jugendalter die Entwicklung von Interessen und das Selbstbild stark beeinflussen.

            Ein zentrales Problem dabei ist die Wahrnehmung von Fächern als „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“. Diese Stereotype wirken sich auf die Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit bestimmten Fächern aus. Wenn beispielsweise ein Mädchen das Bild verinnerlicht hat, Mathematik sei eher „etwas für Jungs“, wird es sich mit diesem Fach weniger identifizieren – unabhängig von der tatsächlichen Begabung.

            Auch Jungen stehen vor Herausforderungen: Sie zeigen oft geringere Selbststeuerungskompetenz und weniger Disziplin, was besonders in weiterführenden Schulformen zum Problem wird, wo selbstorganisiertes Lernen zunehmend wichtig wird. Zudem passen klassische Männlichkeitsbilder, wie sie in der Gesellschaft vermittelt werden, häufig nicht zum schulischen Kontext. Der sogenannte „männliche Habitus“ steht im Widerspruch zu schulischen Anforderungen wie Anpassung, Konzentration und Durchhaltevermögen. Das kann dazu führen, dass Jungen in der Schule häufiger scheitern oder als „bildungsfern“ wahrgenommen werden – auch wenn dies nicht ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht.

            Zusammenfassend lässt sich sagen, dass geschlechterspezifische Unterschiede im Bildungssystem nicht allein auf Leistung zurückzuführen sind. Vielmehr spielen gesellschaftliche Erwartungen, Rollenbilder und psychologische Prozesse eine zentrale Rolle. Um Bildungsungleichheiten zu verringern, braucht es daher eine geschlechtersensible Förderung, die sowohl Mädchen als auch Jungen in ihren jeweiligen Stärken und Herausforderungen ernst nimmt.

            EQUITY (Hoti, 2015) - IDEAL

            Was bedeutet Equity?

            Im Bildungskontext beschreibt der Begriff Equity nicht bloß „Gleichheit“, sondern vor allem Gerechtigkeit. Anders als bei Equality (alle bekommen das Gleiche), geht es bei Equity darum, dass alle das bekommen, was sie individuell brauchen, um erfolgreich lernen und sich entwickeln zu können.

            Equity berücksichtigt also, dass Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule kommen – sei es durch soziale Herkunft, Sprache, Geschlecht, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen. Damit wirklich faire Chancen entstehen, müssen diese Unterschiede bewusst ausgeglichen werden.

            Warum ist Equity wichtig?

            Nicht alle Kinder starten mit den gleichen Chancen ins Bildungssystem. Einige Beispiele:

            • Kinder aus einkommensschwachen Familien haben oft weniger Zugang zu Lernmaterialien, Unterstützung zu Hause oder Förderangeboten.

            • Kinder mit Migrationshintergrund müssen häufig zusätzlich die Unterrichtssprache lernen.

            • Mädchen und Jungen werden manchmal ungleich behandelt oder in bestimmte Rollenbilder gedrängt.

            Equity will diese Unterschiede ausgleichen, damit jedes Kind die gleichen Chancen auf Bildung, Teilhabe und Entwicklung hat – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder körperlicher Verfassung.

            Probleme und Unklarheiten bei der Verwendung des Begriffs

            Obwohl der Begriff "Equity" in vielen politischen und pädagogischen Diskussionen auftaucht, ist nicht eindeutig festgelegt, was genau als „gerecht“ gilt. Dadurch entstehen mehrere Probleme:

            • Es fehlt ein gemeinsamer Maßstab: Wann ist ein Unterschied fair, wann ungerecht?

            • Equity wird oft unscharf oder widersprüchlich verwendet – zum Beispiel im internationalen Bildungsmonitoring der OECD.

            • Häufig wird Equity mit „Chancengleichheit“ gleichgesetzt, ohne genauer zu fragen, wie diese Chancen konkret geschaffen werden sollen.

            Ohne eine klare inhaltliche Orientierung besteht die Gefahr, dass Equity zu einem bloßen Schlagwort wird – ein Begriff, der gut klingt, aber wenig bewirkt.

            Verschiedene Formen von Gerechtigkeit

            Es gibt unterschiedliche Theorien, was unter „Gerechtigkeit“ im Bildungskontext verstanden werden kann. Drei besonders wichtige Ansätze sind:

            1. Verteilungsgerechtigkeit (nach John Rawls):

              • Bildung soll möglichst gerecht verteilt werden.

              • Besonders benachteiligte Gruppen sollen gezielt gefördert werden.

              • Es geht um einen „fairen Ausgleich“ von Startchancen.

            2. Befähigungsgerechtigkeit (nach Amartya Sen & Martha Nussbaum):

              • Ziel ist nicht nur gleiche Chancen, sondern die Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

              • Bildung soll Menschen dazu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt zu führen.

              • Zentral ist die Frage: Was kann ein Mensch tatsächlich mit dem, was er gelernt hat, anfangen?

            3. Anerkennungsgerechtigkeit (nach Axel Honneth):

              • Gerechtigkeit bedeutet auch: gesehen und respektiert zu werden.

              • Jede*r muss als eigenständige Person mit individuellen Bedürfnissen und Rechten wahrgenommen werden.

              • Gerade in inklusiven und vielfältigen Bildungssystemen ist das entscheidend.

            Becker, R. (2011). Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten. In R. Becker (Hg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie. Springer VS, S. 105-109

            Soziale Bildungsungleichheit nach Boudon (1974)


            Ausgangslage: Kritik an bestehenden Erklärungsansätzen

            • Modernisierungstheorie (1970er Jahre):
              Geht davon aus, dass mit der gestiegenen Bildungsnachfrage und gesunkenen Bildungskosten soziale Herkunftseffekte abnehmen müssten.

              Kritik:

              • Keine Erklärung, wie Bildungsentscheidungen getroffen werden

              • Vernachlässigung sozialer Mechanismen

              • Bleibt auf makrosoziologischer Ebene vage

            Boudons Differenzierung: Primäre und sekundäre Herkunftseffekte

            Primärer Herkunftseffekt

            • Betrifft leistungsbezogene Unterschiede, die sich aus dem Sozialisationsprozess im Elternhaus ergeben

            • Kinder aus höheren Sozialschichten:

              • erhalten mehr sprachliche, kognitive und motivationale Förderung

              • entwickeln schulnahes Verhalten und bessere Startvoraussetzungen

            • Kinder aus unteren Schichten:

              • haben häufiger kognitive Defizite aufgrund ungünstiger Lernumfelder

              • scheitern häufiger an Selektionshürden, z. B. beim Übergang auf das Gymnasium

            Zentrale Idee:
            Die soziale Herkunft beeinflusst die Startchancen im Bildungssystem – je niedriger der Status, desto geringer die kulturelle Ausstattung und desto geringer die Bildungschancen.

            Bildungspolitischer Vorschlag:
            Frühkindliche, institutionalisierte Förderung (z. B. Kita, Vorschule) mit qualifiziertem Personal, um Unterschiede frühzeitig abzufedern.

             

            Sekundärer Herkunftseffekt

            • Bezieht sich auf unterschiedliche Bildungsentscheidungen trotz gleicher Leistungen

            • Eltern bewerten Bildung aus sozialer Perspektive:
              Bildung als Mittel zum Statuserhalt (höhere Schichten) oder Risikofaktor (untere Schichten)

            • Grundlage: Social Position Theory (Keller & Zavalloni, 1964)
              ➤ Das Anspruchsniveau richtet sich nicht nach objektiven Maßstäben, sondern nach der sozialen Nähe zu bestimmten Bildungszielen.

            Kosten-Nutzen-Abwägung:

            • Höhere Schichten:

              • geringere wahrgenommene Kosten (z. B. durch Wissen, Ressourcen, soziale Passung)

              • höheres Vertrauen in Bildungsinstitutionen

            • Untere Schichten:

              • größere Unsicherheit, soziale Distanz, weniger Vorbilder

              • höhere wahrgenommene Kosten → geringere Wahrscheinlichkeit für höhere Bildungswege

            Konsequenz:
            Selbst bei gleichen Leistungen treffen Eltern aus höheren Schichten eher bildungsaufstiegsorientierte Entscheidungen als Eltern aus niedrigeren Schichten.

            Fazit & Bedeutung

            • Bildungsungleichheit ist keine Frage individueller Fähigkeiten, sondern Folge eines Wechselspiels von primären und sekundären Herkunftseffekten.

            • Entscheidungen werden durch ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen geprägt.

            • → Die sogenannte „Bildungsferne“ der Arbeiterschicht ist kein Mangel an Interesse, sondern ein Resultat struktureller Benachteiligung.

            Kritische Einordnung

            • Boudon vernachlässigt die Sozialisationsfunktion der Schule:
              Studien zeigen, dass Grundschulen die Herkunftseffekte nicht kompensieren, sondern oft sogar verstärken.

            • Erweiterungen des Modells (z. B. Hillmert & Jacob, 2003):
              Betonen den Einfluss des Zeithorizonts bei Bildungsentscheidungen → kürzer bei materiell benachteiligten Familien

            Gesamtfazit

            Das Modell von Boudon bietet eine differenzierte Erklärung für die Entstehung und Reproduktion sozialer Bildungsungleichheit. Es zeigt auf, dass individuelle Bildungsentscheidungen systematisch durch soziale Herkunft geprägt sind – sowohl durch frühkindliche Voraussetzungen als auch durch elterliche Erwartungshaltungen und Ressourcen.