Ditton, H. & Maaz, K. (2022). Sozioökonomischer Status, Bildungserfolg und Bildungsteilhabe. In H. Reinders (Hg.), Empirische Bildungsforschung: Eine elementare Einführung (1. Aufl., S. 1083-1103). Springer VS.
Grundbegriffe und Erhebungsverfahren
Sozialer Status (Definition): “Mit dem Begriff Sozialer Status wird die Position bezeichnet, die eine Person innerhalb einer Rangordnung der gesellschaftlich vorhandenen Position einnimmt. Die Einordnung in die gesellschaftliche Hierarchie bezieht sich auf die Wertschätzung, die einer Position hinsichtlich gesellschaftlich relevanter Merkmale (z.B. Einkommen, Besitz, Macht) beigemessen wird.”
(Ditton & Maaz In Reinders (2022), S. 1083)
- Der sozioökonomische Status (SES) wird in der Bildungsforschung meist indikatorenbasiert über Beruf, Bildungsniveau und Einkommen der Eltern erfasst.
- Messinstrumente:
- ISEI – gibt jeder Berufstätigkeit eine Zahl von 16 bis 90: je höher der Wert, desto größer Einkommen, Prestige und Bildungsanforderungen. -> METRISCH
- EGP-Klassen – ordnet Menschen in Berufs‑ und Beschäftigungsgruppen (Arbeitgeber, Selbstständige, Facharbeiter …); das Ergebnis sind Kategorien statt Zahlen. -> KATEGORIAL
- Unterscheidung in:
- Arbeitgeber, Selbstständige (ohne Mitarbeiter) und Arbeitnehmern
- Art der Tätigkeit: manuell, nicht- manuell, landwirtschaftlich
- Stellung im Beruf: (selbstständig, abhängig beschäftigt
- Weisungsbefugnis: keine, geringe, große
- Unterscheidung in:
Wozu das Ganze?
→ Weil sich mit diesen Kennziffern sehr gut zeigen lässt, dass Bildungschancen systematisch mit dem Elternhaus zusammenhängen.
- Neben klassischen Schichtmodellen gewinnen Milieu- und Lebensstilansätze an Bedeutung. Sie betonen subjektive Wertorientierungen und Lebensführungen (z. B. Hradil).
- Kritik an klassischen Schichtmodellen:
Missachtung von:
- relevanten Merkmale zur Kennzeichnung der Lebenssituationen von Personen
- horizontaler Ungleichheiten (wie Geschlecht, Alter etc.)
- Pluralisierung und Individualisierung
Ein Versuch der einfacheren Darstellung der Inhalte...
Um eine gesellschaftliche Position zu messen, braucht man zuerst ein Modell, das Gesellschaft in Schichten / Klassen gliedert (z. B. Ober‑, Mittel‑, Unterschicht oder Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer). Ohne dieses Raster könnte man die Position gar nicht verorten.
Es gibt zwei technische Wege, den Platz einer Familie im Schichtmodell festzunageln:
-
Kontinuierlich (metrisch) – man vergibt Punkte auf einer Skala. Beispiel: ISEI = 72 für eine Ärztin.
-
Kategorial (klassenbasiert) – man ordnet Menschen Schubladen zu. Beispiel: „selbstständiger Handwerker ohne Mitarbeiter“ = EGP‑Klasse IV.
Beide Varianten erfüllen denselben Zweck, aber sie liefern unterschiedliche Datentypen (Zahl vs. Kategorie) und erlauben verschiedene statistische Auswertungen.
Wenn man die so gebildeten Schichten miteinander vergleicht, zeigt sich durchweg: Kinder aus höheren Schichten – ganz gleich, ob man sie über ISEI‑Punkte oder EGP‑Klassen definiert – gehen häufiger aufs Gymnasium, erreichen höhere Abschlüsse und schneiden in Tests besser ab als Kinder aus niedrigeren Schichten.
ISEI
= International Socio-Economic Index of Occupational Status
(Internationaler sozioökonomischer Statusindex für Berufe)
(Findet vor allem Verwertung in international vergleichenden Schulleistungsstudien (vgl. PISA; IGLU -> basiert auf Angaben zu Beruf, Einkommen, Bildungsniveau der Eltern
Kurz hierzu:
PIS: ESCS-Index (Index of economic, social an cultural status)
- bestehend aus:
- ISCED (Bildungsabschluss der Eltern)
- HISEI (berufliche Stellung (SES der Eltern))
- HOMEPOS (häusliche Besitztümer))
-
Entwickelt von Harry B. Ganzeboom u. a.
-
Ziel: Berufe nach ihrem sozialen Status vergleichbar machen – international und unabhängig vom Bildungssystem.
-
Berücksichtigt v. a. Bildungsanforderungen und Einkommen, die mit einem Beruf verbunden sind.
-
Ergebnis: Eine metrische Skala von 16 bis 90, z. B.
-
Reinigungskraft ≈ 16
-
Verkäufer ≈ 33
-
Lehrer ≈ 69
-
Richter ≈ 90
-
EGP
= Erikson–Goldthorpe–Portocarero-Klassenschema
-
Ein kategoriales Klassifikationssystem für soziale Klassen.
-
Entwickelt von Robert Erikson, John Goldthorpe und Lucienne Portocarero.
-
Ziel: Soziale Klassenzugehörigkeit anhand des Beschäftigungsstatus systematisch erfassen.
-
Zentrale Kriterien:
-
Art der Tätigkeit (manuell/nicht-manuell)
-
Stellung im Beruf (selbstständig, abhängig beschäftigt)
-
Weisungsbefugnis (z. B. Führungskraft oder ohne Personalverantwortung)
-
Beispielhafte Klassen (stark vereinfacht):
-
I: höhere Dienstklasse (z. B. Akademiker mit Führungsaufgaben)
-
II: untere Dienstklasse
-
III: Routineangestellte
-
IV: Selbstständige
-
V: Facharbeiter
-
VI: ungelernte Arbeiter usw.
Sozioökonomischer Status und Bildungsteilhabe/Bildungserfolg (S. 1086–1089)
Kapitalformen
Bourdieu unterscheidet vier Kapitalarten, die bestimmen, wo jemand in der Gesellschaft steht:
- Ökonomisches Kapital: Geld, Besitz, Einkommen.
- Kulturelles Kapital: Bildung, Wissen, Sprachkompetenz, kulturelle Güter.
- Soziales Kapital: Beziehungen, Netzwerke, „Vitamin B“.
- Symbolisches Kapital: Anerkennung, Prestige – oft aus den anderen Kapitalformen abgeleitet.
Je mehr und je bestimmtere Arten von Kapital man besitzt, desto höher ist die soziale Position.
Zwei soziale Räume
Bourdieu entwirft ein Modell mit zwei sich ergänzenden „Räumen“:
- Raum der sozialen Positionen: Hier zeigt sich, wie viel Kapital eine Person besitzt. -> Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse
- Raum der Lebensstile: Hier zeigt sich, wie Menschen mit ihrem Kapital leben – z. B. ihre Vorlieben, Hobbys, Konsumgewohnheiten, Geschmack.
Habitus
Der Habitus ist das „verinnerlichte“ Verhalten, Denken und Wahrnehmen – er ist geprägt durch die Herkunftsfamilie und deren Kapitalstruktur. Er zeigt sich z. B. in:
- Sprachgebrauch,
- Bildungsentscheidungen,
- Auftreten und Verhalten.
Der Habitus führt dazu, dass Menschen meist „automatisch“ das tun, was zu ihrer sozialen Herkunft passt – ohne bewusst darüber nachzudenken.
Klassenhabitus und soziale Reproduktion
- Menschen mit ähnlichem Kapital entwickeln einen Klassenhabitus, also ähnliche Einstellungen, Werte und „Lebensstile“.
- Diese Haltung wird oft an Kinder weitergegeben (soziale Vererbung).
- So werden Unterschiede zwischen sozialen Klassen reproduziert, insbesondere über das Bildungssystem.
Beispiel: Kinder aus bildungsnahen Familien haben oft einen Habitus, der gut zu Schule und Universität passt – sie werden bevorzugt, oft unbewusst.
Bildungsentscheidungen und soziale Ungleichheit
Bourdieu erklärt, warum Schüler*innen aus unteren Schichten trotz guter Leistungen seltener höhere Bildungswege wählen:
- Unterschiedliche Risikoeinschätzung (z. B. Angst vor dem Scheitern),
- Fehlende Passung zwischen Habitus und schulischer Kultur,
- Mangelndes kulturelles Kapital.
Kurze Info: Unten habe ich nochmal eine etwas differenziertere Erklärung Bourdieus Theorie aus einer anderen Quelle angefügt (Jurt, 2012; Bourdieu 1979). - Doppelt hält besser :)
Rational-Choice-Ansätze
- Bildungsentscheidungen beruhen auf Kosten-Nutzen-Erwägungen (z. B. nach Breen & Goldthorpe 1997).
- Studien zeigen: Kinder höherer Schichten verfügen über höhere Erfolgswahrscheinlichkeitserwartungen und geringere wahrgenommene Kosten.
- Dennoch: Jüngere Forschungen (z. B. Klinge 2016) kritisieren die Begrenztheit rationaler Erklärungsmodelle.
Die Theorie der Frame-Selektion
Die Theorie der Frame-Selektion geht davon aus, dass Menschen Entscheidungen nicht immer rational im klassischen Sinne treffen (wie z. B. im Rational-Choice-Modell). Stattdessen:
- definieren sie die Situation selbst: Sie bewerten z. B., wie wichtig oder vertraut ihnen eine Situation erscheint.
- Dadurch entsteht ein „Frame“ – ein Bezugsrahmen –, innerhalb dessen sie handeln.
Dieser Frame schränkt die wahrgenommenen Handlungsoptionen stark ein. Nur bestimmte Möglichkeiten werden überhaupt als relevant angesehen.
Entscheidungsverhalten aus Gewohnheit
Frame-Selektionsmodelle berücksichtigen auch, dass viele Entscheidungen durch:
- Gewohnheiten (z. B. vertraute Verhaltensmuster),
- frühere Erfahrungen oder
- situative Routinen
beeinflusst werden. Das heißt: Man greift auf bewährte Strategien zurück, statt alles neu zu berechnen.
Bedeutung für Bildungsentscheidungen
Im Kontext von Bildungsentscheidungen bedeutet das:
- Nicht jede Entscheidung (z. B. fürs Gymnasium) ist das Ergebnis einer nüchternen Nutzen-Kosten-Kalkulation.
- Stattdessen greifen Eltern oder Schüler*innen oft auf vertraute Muster oder Einschätzungen zurück („Was haben wir immer gemacht?“ oder „Was machen Leute wie wir?“).
- Dadurch entstehen soziale Pfadabhängigkeiten, die Bildungswege strukturieren.
Fazit
Modelle der Frame-Selektion bieten eine realitätsnähere Erklärung für menschliches Entscheidungsverhalten:
- Sie anerkennen situative Einflüsse, Routinen und soziale Kontexte,
- und stellen damit eine wichtige Ergänzung zur rein rationalen Entscheidungstheorie dar.
Wenn du magst, kann ich dir diesen Teil auch grafisch oder mit Beispielen aus dem Schulalltag aufbereiten.
- Zentrale Forschungsbefunde (S. 1089–1098)
3.1 Bildungsbeteiligung
- Trotz Bildungsexpansion bleiben sozioökonomische Unterschiede stabil – insbesondere beim Zugang zum Gymnasium und zur Hochschule.
- Frühkindliche Bildung:
- Kinder aus privilegierten Haushalten besuchen häufiger Kitas und nehmen stärker an Bildungsangeboten teil (Musik, Sport etc.).
- Frühe Förderung beeinflusst maßgeblich die Vorläuferkompetenzen.
- Übergänge sind kritische Punkte:
- Besonders beim Wechsel Grundschule → Sekundarstufe kommt es zu Entscheidungsverzerrungen zugunsten höherer Schichten, auch bei gleichen Leistungen.
- Dies gilt ebenso für den Übergang Sek I → Sek II → Hochschule.
3.2 Kompetenzerwerb
- Studien (PISA, IGLU, TIMSS) belegen durchgehend bessere Leistungen von Kindern mit hohem SES.
- Sozialer Gradient: Zusammenhang zwischen familiärem SES und Schülerleistung – gemessen z. B. über Regressionsanalysen der Lesekompetenz.
- Längsschnittanalysen (TOSCA) zeigen:
- In Sekundarstufe II sind SES-Effekte auf Leistung schwächer, wenn Schulform kontrolliert wird.
4. Ausblick und Forschungsdesiderate (S. 1098–1103)
- Die Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft ist in Deutschland außergewöhnlich stark.
- Frühförderung, v. a. im sprachlichen Bereich, ist essenziell.
- Forderung: Mehr Durchlässigkeit zwischen Bildungsgängen – z. B. durch Stärkung beruflicher Zugangswege zur Hochschule.
- Forschungsbedarf:
- Klärung, wie primäre und sekundäre Effekte miteinander verflochten sind (z. B. durch langfristige Vorentscheidungen).
- Notwendig sind Längsschnittstudien, um prozesshafte Bildungsentscheidungen zu analysieren.
Fazit (S. 1103)
Soziale Ungleichheit im Bildungssystem bleibt ein strukturelles Problem mit vielfältigen Ursachen. Effektive Gegenstrategien müssen früh ansetzen, Übergänge in den Blick nehmen und soziale Kontexte differenziert berücksichtigen.
Stanat, P. & Edele, A. (2022). Zuwanderung und soziale Ungleichheit. In H. Reinders (Hg.), Empirische Bildungsforschung: Eine elementare Einführung (1. Aufl., S. 1105-1126). Springer VS.
Begriffsklärung und Kontextualisierung
(S. 1105–1106)
Personen mit Zuwanderungshintergrund umfassen sowohl selbst Eingewanderte als auch in Deutschland geborene Menschen, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind. In der Bildungsstatistik und Forschung werden sie jedoch häufig als eine relativ homogene Gruppe behandelt, obwohl große Unterschiede in Herkunft, sozialem Status, Sprachkompetenz und Aufenthaltsstatus bestehen. Der Zuwanderungshintergrund gilt als ein relevanter Aspekt bei der Erklärung von Bildungsungleichheiten in Deutschland.
Migrationsformen und ihre Relevanz für Bildung (S. 1107–1109)
Fünf Haupttypen von Migration sind für die Bildungsforschung bedeutsam:
- Klasse Arbeitsmigration seit den 1950er-Jahren (z. B. aus der Türkei, Italien),
- Neue Arbeitsmigration und Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten,
- Aussiedler und Spätaussiedlerzuzug aus osteuropäischen Ländern,
- Flucht- und Asylmigration, insbesondere seit den 1990er-Jahren und verstärkt ab 2015,
- Familiennachzug als migrationsrechtlich regulierte Form der Zuwanderung.
Die Vielfalt dieser Gruppen führt zu unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Bildung und sozialer Integration. Besonders stark wirkt sich der Aufenthaltsstatus auf Teilhabechancen aus (z. B. Zugang zu Bildungseinrichtungen, Sprachförderung, Arbeitsmarkt).
Methodische Zugänge zu Bildungsungleichheit
(S. 1110–1111)
Groß angelegte Schulleistungsstudien (z. B. PISA, IGLU) liefern Daten zu Kompetenzunterschieden zwischen Schüler*innen mit und ohne Zuwanderungshintergrund. Diese Querschnittsstudien erlauben aber keine Kausalaussagen (Sonderfall – Längsschnittstudie NEPS): Seit 2009 – längsschnittliche Daten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsentscheidungen und Bildungsverläufen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen). Um Ursachen genauer zu analysieren, sind kontrollierte Interventionsstudien oder quasi-experimentelle Designs erforderlich, die z. B. gezielte Sprachförderprogramme oder schulische Maßnahmen evaluieren.
Zuwanderungsbezogene Disparitäten
(S. 1112–1115)
Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund zeigen in aggregierten Daten tendenziell niedrigere schulische Leistungen (vgl. hierzu IQB-Bildungstrend 2016 – ViertklässlerInnen mit Zuwanderungshintergrund erzielten in allen Kompetenzbereichen geringere Leistungen (als MitschülerInnen ohne Zuwanderungshintergrund) – ebenfalls neunte Jahrgangsstufe (IQB 2015/2019)). Unterschiede bestehen nicht nur im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte, sondern auch zwischen den Herkunftsgruppen: So erreichen Jugendliche türkischer und arabischer Herkunft im Schnitt niedrigere Kompetenzen als z. B. Jugendliche aus Südosteuropa oder osteuropäischen Staaten.
Schulzufriedenheit, soziale Eingebundenheit und Lernfreude
Trotz objektiver Benachteiligungen berichten viele Schüler*innen der vierten Jahrgangsstufe mit Zuwanderungshintergrund über eine positive Schulwahrnehmung und hohe Lernfreude (Die Einschätzung der SchülerInnen der neunten Klasse sind geringfügig schlechter – insgesamt aber zufrieden).
Bildungsbeteiligung
- Trotz guter sozialer Integration in der Schule bestehen deutliche zuwanderungsbezogene Disparitäten bei Bildungsbeteiligung und -abschlüssen.
- Kinder mit Zuwanderungshintergrund sind frühkindlich und schulisch benachteiligt, z. B. bei der Nutzung von Kindertageseinrichtungen und dem Besuch weiterführender Schulen.
Beispiele:
- Nur 21 % der unter 3-Jährigen mit Zuwanderungshintergrund besuchten 2019 eine Kita, gegenüber 42 % ohne (Bildungsberichterstattung 2020).
- 30 % der Neuntklässler*innen mit Zuwanderungshintergrund besuchen ein Gymnasium, gegenüber 43 % ohne. In der ersten Generation liegt der Anteil sogar nur bei 16 %.
Schulabschlüsse
- Junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte im Alter von 18–25 Jahren haben häufiger:
- nur einen Hauptschulabschluss (19 % vs. 12 %),
- seltener die allgemeine Hochschulreife (36 % vs. 44 %),
- häufiger gar keinen Schulabschluss (9 % vs. 2 %).
Übergang in die Berufsausbildung und Aufnahme eines Studiums
Berufsausbildung:
- Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund haben geringeres Interesse und schlechtere Realisierungschancen bei der Aufnahme einer Ausbildung.
- 71 % der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund äußern Ausbildungswunsch, aber nur 51 % beginnen eine Ausbildung (vs. 77 % Wunsch und 64 % Umsetzung bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund).
Studium:
- Entgegen dem Muster bei der Ausbildung nehmen Personen mit Zuwanderungshintergrund häufiger ein Studium auf als Personen ohne (75 % vs. 71 %) – bei gleichen Noten und sozialer Herkunft sogar deutlich häufiger.
- Allerdings ist die Abbruchquote im Erststudium bei Migrant*innen höher.
Erklärungsansätze für zuwanderungsbezogene Disparitäten in Deutschland
Die Bildungsforschung identifiziert mehrdimensionale Ursachen, die sich auf drei Ressourcenarten stützen:
a) Sozioökonomisches Kapital
b) Kulturelles Kapital
c) Soziales Kapital
(Kennst du bereits aus (oben vorgestellter) Theorie von Bourdieu)
Zusätzlich werden sprachliche Barrieren und mangelnde Systemkenntnisse als spezifische Benachteiligungsfaktoren für Migrant*innen genannt.
Empirische Befunde zum Einfluss familiärer und individueller Hintergrundmerkmale
- Bildungsentscheidungen sind nicht nur leistungsabhängig, sondern stark vom sozialen Hintergrund geprägt.
- Auch bei gleicher Leistung ist die Chance auf ein Gymnasium deutlich höher für Kinder aus oberen Sozialschichten (z. B. dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für Kinder aus der Dienstklasse gegenüber Arbeiterkindern).
Kulturelle Orientierung, Erziehungsstil und Identität
- Kulturell geprägte Werte, Erziehungsziele und Rollenvorstellungen werden als mögliche Ursachen für Bildungsungleichheiten diskutiert.
- B. könnten traditionelle Geschlechterrollen negative Effekte auf Bildungsverläufe von Mädchen haben (Boos-Nünning 2005).
- Umgekehrt wird der Bildungserfolg vietnamesischer Schüler*innen mit leistungsorientierter Wertehaltung erklärt.
- Studien zeigen: Unterschiede im Erziehungsstil hängen oft mit soziodemografischen Faktoren zusammen (z. B. Bildungsstand der Eltern), bleiben aber teils auch unabhängig bestehen.
- Wichtig: Der Zusammenhang zwischen kulturellen Faktoren und Bildungsungleichheit ist nicht hinreichend belegt.
- Kulturelle Identität wirkt jedoch auf Schulleistungen:
- Nationale Identität (Gefühl der Zugehörigkeit zum Aufnahmeland) korreliert positiv mit schulischer Leistung.
- Ethnische Identität (Bezug zur Herkunft) beeinflusst eher die psychologische Anpassung.
- Jugendliche, die sich weder mit dem Herkunfts- noch mit dem Aufnahmeland identifizieren, schneiden besonders schlecht ab.
Zusammensetzung der SchülerInnenschaft in Schulen und Klassen
- Hohe Anteile von Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund werden häufig mit schlechteren Leistungen in Verbindung gebracht.
- Hauptfaktor: Soziale Zusammensetzung der Klasse, nicht der Migrationshintergrund an sich:
- Leistungsnachteile entstehen vor allem bei hohem Anteil von Schüler*innen mit niedrigem sozioökonomischen Status oder geringem Vorwissen.
- Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund sprechen untereinander seltener Deutsch, was den Spracherwerb hemmen kann.
- Fazit: Entscheidend für schulischen Erfolg ist nicht die kulturelle, sondern die soziale Zusammensetzung der Lerngruppe.
Stereotype, Leistungserwartungen und Diskriminierung
- Diskriminierung wird als ein möglicher Erklärungsansatz für Bildungsbenachteiligung diskutiert:
- Individuelle Diskriminierung: Lehrkräfte könnten Schüler*innen mit Migrationshintergrund unbewusst anders behandeln.
- Studien zeigen widersprüchliche Befunde: Teilweise sogar positive Diskriminierung (z. B. häufiger Gymnasialempfehlung bei gleicher Leistung).
- Leistungserwartungen sind teils verzerrt: Lehrkräfte erwarten z. B. von türkeistämmigen Schüler*innen geringere Leistungsentwicklung (vor allem im Fach Deutsch).
- Stereotype Threat: Das Bewusstsein, negativ stereotypisiert zu werden, kann Leistung mindern (z. B. in Prüfungen).
- Institutionelle Diskriminierung: Strukturen des Bildungssystems benachteiligen Lernende mit Zuwanderungsgeschichte indirekt, etwa durch mangelnde Berücksichtigung sprachlicher Ausgangslagen.
Ansätze zur Überwindung zuwanderungsbezogener Bildungsnachteile
- Zentrale Bedeutung hat das Diversitätsklima der Schule:
- Pluralistische und egalitäre Schulklimata fördern psychische Anpassung und Wohlbefinden.
- Sprachförderung ist zentral:
- Viele Schüler*innen starten mit geringeren Deutschkenntnissen.
- Bisherige Maßnahmen zur Sprachförderung zeigen oft geringe Wirksamkeit.
- Es besteht Forschungsbedarf, wie Sprachförderung effektiv gestaltet werden kann.
- Stärken von Schüler*innen mit Migrationshintergrund:
- Hohe Lernfreude, Bildungsaspirationen und Motivation trotz geringerer Leistungen im Durchschnitt.
- Förderung sollte früh ansetzen und systematisch auch andere Basiskompetenzen (z. B. Mathematik) einbeziehen.
Fazit und Implikationen
- Zuwanderungsbezogene und soziale Disparitäten sind nachhaltig und komplex bedingt.
- Sie verstärken sich an Übergängen im Bildungssystem (z. B. Primar- zu Sekundarstufe, Schule zu Beruf).
- Frühförderung, verbesserte Durchlässigkeit und Berücksichtigung von Sozialisationsbedingungen gelten als zentrale Handlungsfelder zur Reduktion der Ungleichheiten
Tippelt, R. (2006). Weiterbildungs- und Erwachsenenbildungsforschung als wichtiges Segment der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung. In H. Merkens (Hrsg.), Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung (S. 109-112). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Historische und theoretische Einordnung
- Entstehung der Erwachsenenbildung im 19. Jahrhundert als soziale und pädagogische Praxis.
- Ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmende wissenschaftliche Systematisierung im Kontext lebenslangen Lernens.
- Etablierung als eigenständiger Bereich innerhalb der Erziehungswissenschaft.
Definition und Gegenstand der Bildungsforschung
- Bildungsforschung laut Deutschem Bildungsrat (1970):
- Untersuchung von Bildungs- und Erziehungsprozessen in gesellschaftlichem Kontext.
- Berücksichtigung aller Altersstufen und Lernorte (formell, non-formell, informell).
- Fokus auch auf organisatorische und ökonomische Rahmenbedingungen.
- Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung gehört zur Bildungsforschung im weiteren Sinne.
Erweiterte Perspektiven auf Weiterbildung
- Früher: Organisiertes Lernen nach der Erstausbildung (klassische Weiterbildung).
- Heute: Einbeziehung von:
- informellem Lernen im Alltag,
- Lernprozessen in der Erwerbsarbeit,
- kurzfristigem Anlernen und Einarbeiten.
Ziele der Erwachsenen- und Weiterbildung
- Kompetenzentwicklung des Individuums
- Förderung von Fähigkeiten, Wissen und Selbstständigkeit Erwachsener.
- Unterstützung lebenslangen Lernens im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben.
- Innovationen im ökonomischen System
- Beitrag zur Qualifizierung der Arbeitskräfte.
- Anpassung an technische, wirtschaftliche und organisatorische Veränderungen.
- Förderung von Innovationsfähigkeit in Unternehmen und Organisationen.
- Soziale Integration und Kohäsion von verschiedenen sozialen Gruppen
- Reduktion sozialer Ungleichheiten durch Bildungschancen.
- Integration benachteiligter Gruppen (z. B. durch Alphabetisierung, Sprachkurse).
- Förderung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität.
- Politische Partizipation von Bürgern
- Stärkung demokratischer Kompetenzen und Meinungsbildung.
- Förderung der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben.
- Bildung als Grundlage für mündige Bürger*innen.
Interdisziplinarität der Forschung
- Beteiligte Disziplinen:
- Erziehungswissenschaft
- Bildungssoziologie
- Lernpsychologie
- Betriebswirtschaft
- Arbeitspsychologie
- Kommunikations- und Medienwissenschaft
- Kooperation mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur und Sozialwesen.
Forschungsfelder (nach Egloff/Kade 2004)
- Adressaten- und Teilnehmerforschung
- Professionsforschung (Professionalisierung der Lehrenden)
- Institutions- und Organisationsforschung
- Lehr-/Lernforschung und didaktische Forschung
Verbindung zur Lebenslauf- und Biographieforschung
- Einfluss von Lebensalter, Biografie und kulturellem Kontext.
- Drei Ansätze:
- Quantitative Lebenslaufforschung (Analyse des Handels best. Akteure unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen)
- Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Systematische Beschreibung der Entwicklungsaufgaben und der Entwicklungskrisen (Lebenslauf – Lebens- Berufs- und Familienzyklen))
- Qualitative Biographieforschung (Rekonstruktion der individuellen Entwicklung (in Differenz zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensverlaufsmuster))
- Bedeutung: Berücksichtigung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren bei Bildungsmaßnahmen.
Empirische Forschung zur beruflichen Weiterbildung
- Datenbankanalysen (1990er und 2005) zeigen:
- ca. 335 aktuelle Projekte zur beruflichen/betrieblichen Weiterbildung.
- Forschung erfolgt sowohl universitär als auch außeruniversitär.
- Viele Projekte sind interdisziplinär angelegt.
- Abgrenzung zwischen beruflicher und allgemeiner/kultureller Weiterbildung oft schwierig.
- Forschung ist theoriebasiert und empirisch fundiert, häufig in Verbundprojekten organisiert.
Bourdieus Kapitaltheorie (1979) – eine anschauliche Gesamterklärung (Jurt, 2012)
Pierre Bourdieu wollte erklären, weshalb moderne Gesellschaften formell Gleichheit versprechen (Schulpflicht, Wahlrecht, offene Aufnahmetests ) und dennoch soziale Ungleichheiten erstaunlich stabil bleiben. Seine Antwort besteht aus drei ineinandergreifenden Bausteinen:
1. Was ist der Habitus
Der Habitus beschreibt die tief verinnerlichten Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, die Menschen im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in ihrem sozialen Umfeld erlernen – meist unbewusst.
Diese Muster bestimmen, wie wir die Welt sehen, wie wir uns verhalten, wie wir mit Autoritäten umgehen, was wir für „normal“ halten – kurz: wie wir in der Welt handeln und fühlen, ohne bewusst darüber nachzudenken.
Wie entsteht der Habitus?
Der Habitus entsteht durch Sozialisation – also durch das Aufwachsen in einer bestimmten sozialen Umgebung. Schon in der Kindheit lernt ein Mensch, wie man sich in seinem sozialen Milieu „richtig“ verhält, um dazuzugehören oder „zu bestehen“. Er beobachtet, wie andere sprechen, sich kleiden, denken – und übernimmt dies unbewusst.
Diese frühen Erfahrungen prägen ihn so stark, dass der Habitus relativ stabil bleibt, auch wenn sich die Lebensumstände ändern.
Was bewirkt der Habitus?
-
Der Habitus prägt unser Verhalten und unsere Vorlieben – zum Beispiel unsere Sprache, unsere Meinung über Bildung, Geld, Familie oder Erfolg.
-
Menschen mit einem ähnlichen sozialen Hintergrund entwickeln oft ähnliche Denk- und Handlungsmuster.
-
Dadurch führt der Habitus dazu, dass soziale Ungleichheiten weitergegeben werden – unabhängig von Intelligenz oder Talent.
Beispiel:
Trotz gleicher Hochschulzugangsberechtigung beginnen nur 27 von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien ein Studium, aber 79 von 100 aus Akademiker-Familien.
→ Der Habitus kann mitentscheiden, ob ein junger Mensch sich zutraut zu studieren – auch wenn er die formalen Voraussetzungen erfüllt.
Formen des Habitus
-
Körperlicher Habitus: Wie jemand sich bewegt, Gestik, Körperhaltung (→ Hexis)
-
Kognitiver Habitus: Wie jemand denkt und urteilt
-
Ästhetischer Habitus: Was jemand mag, seinen Geschmack (z. B. in Musik, Kleidung, Essen)
Warum ist das wichtig?
Der Habitus hilft zu erklären, warum Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen oft so verschieden handeln, obwohl sie formal gleiche Möglichkeiten haben. Er spielt eine große Rolle in der Bildungsforschung und in der Analyse sozialer Ungleichheit.
2. Kapital in vier Gestalten
Bourdieu dehnt den Marx‑Begriff „Kapital“ auf alle Ressourcen aus, die sich anhäufen, vererben und in andere Formen umwandeln lassen:
-
Ökonomisches Kapital: Geld, Besitz, Erbschaften.
-
Kulturelles Kapital: verkörpertes Wissen und Geschmack (inkorporiertes (kulturelles) Kapital), Kulturgüter wie Bücher oder Gemälde (objektiviertes (kulturelles) Kapital), Zugang zu Bildungseinrichtungen (aber auch Kulturstätten) (institutionelles (kulturelles) Kapital).
-
Soziales Kapital: dauerhafte Beziehungen und Netzwerke, die Unterstützung mobilisieren können.
-
Symbolisches Kapital: das Ansehen, das jede dieser Ressourcen erhält, sobald sie öffentlich als wertvoll anerkannt wird – ein Titel, ein Ruf, ein Prestigeobjekt.
Symbolisches Kapital wirkt wie ein Verstärker: Ein Diplom zählt nicht nur wegen der gelernten Inhalte, sondern weil es gesellschaftlich als Gütesiegel gilt.
3. Soziale Felder
Gesellschaft besteht aus vielen konkurrenzhaften Arenen (Wissenschaft, Politik, Kunst, Wirtschaft). Jedes Feld legt fest, welche Kapitalsorte dort als „Trumpf“ gilt und nach welchen Regeln gespielt wird. Akteure treten mit ihrem Habitus und ihrem Kapitalbestand ein, ringen um Positionen und versuchen, ihre Ressourcen zu vermehren oder in die passende Form umzuwandeln.
Wie entsteht und bleibt Ungleichheit?
-
In der Familie lernen Kinder der Oberschicht früh Bücher, Fremdsprachen, Musikinstrumente – sie starten mit reichlich kulturellem Kapital und mit Kontakten, die Praktika oder Empfehlungsschreiben liefern.
-
Schule und Universität erscheinen neutral, sind aber auf den Habitus der Mittelschicht zugeschnitten: Sprachstil, Prüfungsform, Beispiele im Unterricht. Wer den Code schon zuhause gehört hat, sammelt leichter gute Noten und Titel, die wiederum in Netzwerke und später in Einkommen konvertiert werden können.
-
Über Konvertibilität kann man Mangel in einer Kapitalart oft ausgleichen: Geld kauft Nachhilfe (ökonomisch → kulturell), ein vornehmer Titel öffnet Türen zu Netzwerken (kulturell → sozial), ein gutes Netzwerk bringt lukrative Aufträge (sozial → ökonomisch). Anerkennung wandelt alles in symbolisches Kapital, das weitere Chancen eröffnet.
-
Diese Prozesse laufen meist unsichtbar. Bourdieu nennt das symbolische Gewalt: Hierarchien werden als „natürlich“ erlebt, nicht als Zwang – deshalb stellen sie kaum jemand offen in Frage.
Wichtige Abgrenzungen
Bourdieu wird oft für ökonomistisch gehalten, betont aber gerade, dass nicht alles auf Geld reduzierbar ist: Auch Kunst, Religion oder Wohltätigkeit folgen einer Logik des Kapitals – nur zirkuliert dort Wert in Gestalt von Ehre oder kulturellem Prestige. Gegen den Humankapital‑Ansatz der Ökonomie hebt er hervor, dass die wichtigste Bildungsinvestition unsichtbar in Familien stattfindet und dass Erfolg immer vom Zusammenspiel aller Kapitalarten abhängt.
Warum das Ganze zählt
-
Bildungspolitik sollte nicht nur Schulformen angleichen, sondern frühe kulturelle Teilhabe und den Auf‑ und Ausbau sozialer Netze fördern.
-
Individuell hilft das Modell, Stärken gezielt auszubauen: Wer wenig Geld hat, kann vielleicht über Netzwerke oder einen begehrten Abschluss symbolisches Kapital gewinnen.
-
Gesellschaftskritisch macht die Theorie sichtbar, dass Ungleichheit nicht nur am Einkommen, sondern an Stilen, Körperhaltungen und dem „richtigen“ Geschmack festhängt.
Kurzformel
Habitus + Kapital → Reproduktion sozialer Ungleichheit
So zeigt Bourdieu, dass Macht in modernen Gesellschaften weniger durch offene Barrieren als durch unsichtbare Startvorteile, kulturelle Codes und symbolische Wertzuschreibungen ausgeübt wir und warum echte Chancengleichheit weit mehr erfordert als gleiche Schulbänke.
Geschlechterungleichheiten - soziale Ungleichheit
In der empirischen Bildungsforschung zeigen sich deutliche geschlechterspezifische Unterschiede im Kompetenzerwerb und in der Bildungsbeteiligung. Besonders auffällig ist der Vorsprung der Mädchen im Bereich Lesekompetenz. Bei internationalen Vergleichsstudien wie IGLU/PIRLS (2016) erzielten Mädchen im Durchschnitt 543 Punkte, während Jungen auf 532 Punkte kamen. Auch in der Lesemotivation zeigen sich Unterschiede: Mädchen gaben deutlich häufiger an, außerhalb der Schule gerne zu lesen. Dieser Unterschied deutet auf eine höhere intrinsische Lesemotivation bei Mädchen hin.
In Mathematik und den Naturwissenschaften zeigt sich ein anderes Bild: Jungen schneiden hier – wenn auch nur leicht – besser ab. In der TIMSS-Studie von 2015 erreichten Jungen in Mathematik 524 Punkte, Mädchen 520. In den Naturwissenschaften waren die Unterschiede in Deutschland statistisch nicht signifikant. Auch die PISA-Studie (2015), die die Kompetenzen von 15-Jährigen am Ende der Pflichtschulzeit erfasst, zeigt diese Tendenz: Mädchen lagen im Lesen vorn, Jungen hingegen in Mathematik und den Naturwissenschaften.
Trotz ihrer überdurchschnittlichen Leistungen im Schulsystem stoßen Mädchen und junge Frauen im Berufsleben noch immer auf strukturelle Nachteile. Umgekehrt benötigen Jungen verstärkte Unterstützung beim selbstgesteuerten Lernen sowie beim Ausbau ihrer Lesekompetenz. Auch fällt auf, dass Mädchen ihre Fähigkeiten – besonders in traditionell männlich geprägten Fächern wie Mathematik oder Technik – häufig unterschätzen. Dies hängt eng mit gesellschaftlichen Rollenvorstellungen zusammen, die im Jugendalter die Entwicklung von Interessen und das Selbstbild stark beeinflussen.
Ein zentrales Problem dabei ist die Wahrnehmung von Fächern als „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“. Diese Stereotype wirken sich auf die Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit bestimmten Fächern aus. Wenn beispielsweise ein Mädchen das Bild verinnerlicht hat, Mathematik sei eher „etwas für Jungs“, wird es sich mit diesem Fach weniger identifizieren – unabhängig von der tatsächlichen Begabung.
Auch Jungen stehen vor Herausforderungen: Sie zeigen oft geringere Selbststeuerungskompetenz und weniger Disziplin, was besonders in weiterführenden Schulformen zum Problem wird, wo selbstorganisiertes Lernen zunehmend wichtig wird. Zudem passen klassische Männlichkeitsbilder, wie sie in der Gesellschaft vermittelt werden, häufig nicht zum schulischen Kontext. Der sogenannte „männliche Habitus“ steht im Widerspruch zu schulischen Anforderungen wie Anpassung, Konzentration und Durchhaltevermögen. Das kann dazu führen, dass Jungen in der Schule häufiger scheitern oder als „bildungsfern“ wahrgenommen werden – auch wenn dies nicht ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit entspricht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass geschlechterspezifische Unterschiede im Bildungssystem nicht allein auf Leistung zurückzuführen sind. Vielmehr spielen gesellschaftliche Erwartungen, Rollenbilder und psychologische Prozesse eine zentrale Rolle. Um Bildungsungleichheiten zu verringern, braucht es daher eine geschlechtersensible Förderung, die sowohl Mädchen als auch Jungen in ihren jeweiligen Stärken und Herausforderungen ernst nimmt.