
Lebenslanges Lernen – Bildung als Antwort auf eine dynamische Welt
Der Begriff lebenslanges Lernen beschreibt eine der zentralen Herausforderungen moderner Bildungspolitik. In einer Welt, die sich durch technischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel stetig verändert, genügt es nicht mehr, Bildung ausschließlich als eine auf Kindheit und Jugend begrenzte Phase zu verstehen. Lernen muss heute als kontinuierlicher Prozess über die gesamte Lebensspanne hinweg gedacht werden.
Historische Entwicklung – Bildung als Reaktion auf gesellschaftliche Umbrüche
Die Idee, dass Bildung nicht abgeschlossen ist, sondern sich im Laufe des Lebens immer wieder aktualisieren muss, hat historische Wurzeln. Bereits mit der Französischen Revolution und später im Zuge der napoleonischen Reformen setzte sich zunehmend der Gedanke durch, dass Leistung – und nicht Geburt oder Stand – über gesellschaftlichen Aufstieg entscheiden solle. Napoleon beispielsweise führte ein System ein, bei dem Soldaten nach Leistung befördert wurden. Diese Grundidee durchzog auch den Bildungsbereich: Zugang zu Bildung wurde mit bürgerlichen Rechten verknüpft, und damit veränderte sich die zivile Gesetzgebung nachhaltig.
Mit der Industrialisierung und insbesondere durch die technologische Revolution am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Anforderungen an Arbeit und Bildung erneut: In einer hoch technisierten Welt war es nicht mehr effizient, ungelernte Tagelöhner für komplexe Maschinenarbeiten einzusetzen. Es entstand ein Bedürfnis nach strukturierten Ausbildungen, später ergänzt durch berufsbegleitende Weiterbildung, um mit der Geschwindigkeit des technischen Fortschritts Schritt halten zu können.
Neue Herausforderungen: Technologischer Wandel, Mobilität, Lebenserwartung
Heutige Gesellschaften sind durch eine steigende Lebenserwartung, zunehmende berufliche Mobilität und einen rasanten technologischen Fortschritt geprägt. Technologische Innovationen verändern sich innerhalb weniger Jahre – und damit auch die Anforderungen an berufliche und gesellschaftliche Teilhabe. Während sich im 20. Jahrhundert technischer Wandel oft noch im Rhythmus ganzer Generationen vollzog (ca. 40 Jahre), erleben Menschen heute mehrere grundlegende Innovationsphasen innerhalb eines einzigen Berufslebens.
Diese Entwicklung erfordert kontinuierliche Bildungsangebote – nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch in Form von beruflicher Fortbildung und nicht-berufsbezogener Weiterbildung.
Ein Beispiel für institutionalisierte Weiterbildungsstrukturen bietet das Bayerische Lehrerbildungsgesetz: Laut Art. 20 sind Lehrkräfte verpflichtet, regelmäßig an Fortbildungen teilzunehmen. Ziel ist es, auch im pädagogischen Bereich Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen zu halten – etwa im Umgang mit digitalen Medien oder in Fragen der Schulentwicklung.
Komplexitätszunahme und Bildung
In modernen Gesellschaften lässt sich eine zunehmende Komplexität beobachten – sowohl in inhaltlicher als auch in sozialer Hinsicht. Gesellschaftliche Zusammenhänge sind vielfältiger, dynamischer und weniger vorhersehbar geworden. In diesem Zusammenhang wird Bildung zu einer Strategie der Anschlussfähigkeit: Sie soll Menschen dazu befähigen, auch in widersprüchlichen Lebenssituationen handlungsfähig zu bleiben. Wie Scheunpflug und Schröck (2000) formulieren:
„Bildung heißt dann, durch eine abstrakte Anschlussfähigkeit auf viele Lebenssituationen vorbereitet zu sein und (…) auf sich gestellt eine Welt voller Widersprüche (…) leben zu können.“
Aktuelle Daten: Lehrerfortbildung im internationalen Vergleich (TALIS)
Ein Blick auf aktuelle Daten der TALIS-Studie (Teaching and Learning International Survey) zeigt, wie sich Weiterbildungsgewohnheiten von Lehrkräften in Deutschland im internationalen Vergleich darstellen:
- Teilnahme an Präsenzseminaren: Deutschland 57 % – internationaler Durchschnitt 76 %
- Teilnahme an digitalen Fortbildungen: Deutschland 56 % – international 36 %
- Besuch von Bildungskonferenzen: Deutschland 21 % – international 49 %
- Teilnahme an Lehrkräftenetzwerken: Deutschland 21 % – international 40 %
Inhaltlich stehen bei deutschen Lehrkräften folgende Themen im Vordergrund:
- Digitale Medien (65 %)
- Fachliche Vertiefung (46 %)
- Schulentwicklung (38 %)
Weniger häufig thematisiert wird der Bereich Leistungsbeurteilung – nur 18 % der Lehrkräfte in Deutschland besuchen hierzu Fortbildungen, während der internationale Durchschnitt bei 65 % liegt.
Auch bei der Hospitation im Kollegium zeigen sich Unterschiede: In Deutschland gibt rund die Hälfte der Lehrkräfte an, nie bei anderen unterrichtenden Kolleg*innen zu hospitieren. Nur 23 % tun dies regelmäßig (mindestens einmal pro Jahr), obwohl kollegiale Kooperation eine wichtige Quelle für professionelles Lernen darstellt.
Fazit: Bildung über die Lebensspanne als gesellschaftliche Notwendigkeit
Lebenslanges Lernen ist heute kein pädagogisches Ideal mehr, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Die Verbindung von technologischer Entwicklung, wachsender Komplexität, beruflicher Mobilität und demografischem Wandel verlangt nach kontinuierlicher Weiterbildung und flexiblen Bildungsstrukturen – sowohl im schulischen als auch im beruflichen und privaten Bereich.
Weiterbildung kann in unterschiedlichen Formen erfolgen: abschlussbezogen, adaptiv, inner- oder außerbetrieblich, berufsbezogen oder allgemeinbildend. Entscheidend ist, dass Bildung nicht als abgeschlossenes Projekt verstanden wird, sondern als offener Prozess, der dem Menschen ermöglicht, sein Leben aktiv und reflektiert in einer sich wandelnden Welt zu gestalten.
Was ist Lebenslanges Lernen?
Lebenslanges Lernen bezeichnet das kontinuierliche Aneignen von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen über die gesamte Lebensspanne hinweg. Dabei umfasst der Begriff sowohl das tatsächliche Lernverhalten von Individuen als auch den öffentlichen, bildungspolitischen und gesellschaftlichen Diskurs über Lernen (vgl. Rothe 2011). In seiner Vielschichtigkeit kann lebenslanges Lernen als mehrdimensionales Konstrukt verstanden werden, das je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann – etwa als anthropologisches Phänomen, bildungspolitisches Konzept, moralische Verpflichtung oder als positiv konnotierte Floskel (ebd.).
Anthropologische und gesellschaftliche Grundlagen
Aus anthropologischer Perspektive ist der Mensch auf Lernen angewiesen, um sich an eine sich ständig verändernde Umwelt anzupassen. Als sogenanntes „Mängelwesen“ (Gehlen) muss er durch Lernen überlebensnotwendige Fähigkeiten erwerben. Lernen ist damit ein alltägliches, selbstverständliches Phänomen, das durch immer neue Anforderungen des Lebens beständig notwendig bleibt – Leben ist in dieser Sichtweise gleichsam identisch mit Lernen.
Formen des Lernens
Lebenslanges Lernen umfasst alle Formen des Lernens:
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Informelles Lernen: alltägliche, nicht-institutionalisierte Lernprozesse, z. B. Gespräche im Freundeskreis
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Non-formales Lernen: organisierte Lernangebote ohne offizielle Abschlüsse, z. B. VHS-Kurse, Podcasts
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Formales Lernen: strukturiertes, zertifiziertes Lernen in Schulen, Hochschulen etc.
(Vgl. BMFSFJ 2005)
Diese Lernprozesse finden nicht nur über die gesamte Lebenszeit („lifelong“) statt, sondern auch in unterschiedlichen Lebensbereichen („lifewide“) – also über Schule, Beruf, Freizeit und digitale Räume hinweg. Lernen ist damit ein vernetzter und umfassender Prozess.
Funktionen und Zielsetzungen
Lebenslanges Lernen erfüllt verschiedene Funktionen:
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Weiterführung und Vertiefung grundlegender Bildung
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Nachholen bzw. Ersetzen veralteter Qualifikationen
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Ausgleich sozialer Ungleichheiten
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Sicherung individueller Handlungsfähigkeit und Selbstständigkeit
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Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe
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Förderung der Wettbewerbsfähigkeit in Wirtschaft und Politik
(Vgl. Alheit & Dausien 2002; Casale et al. 2006)
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen – wie Verwissenschaftlichung, Digitalisierung, Individualisierung oder der Entstehung der sogenannten Wissensgesellschaft – wird Lernen zur Voraussetzung für soziale Integration und ökonomische Teilhabe (vgl. Hof 2011a).
Bildungspolitischer Diskurs
Im Zentrum des bildungspolitischen Diskurses stehen u. a. die „Sechs Grundbotschaften“ des EU-Memorandums über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000). Dazu zählen:
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Neue Basisqualifikationen für alle (z. B. IT, Fremdsprachen, soziale Kompetenzen)
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Höhere Investitionen in Humankapital
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Innovation in Lehr- und Lernmethoden
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Anerkennung informellen und non-formalen Lernens
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Neue Berufsberatungssysteme
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Lernmöglichkeiten in räumlicher Nähe der Lernenden
Diese Botschaften betonen die Notwendigkeit, Lernen nicht nur als individuellen Akt, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen.
Bedeutung für Schule und Lehrer*innenbildung
Lebenslanges Lernen stellt auch für die Schule und insbesondere für Lehrer*innen eine große Herausforderung dar. In einer Welt der Ungewissheit und Widersprüche (Scheunpflug & Schröck 2000) muss Bildung die Fähigkeit zur Reflexion und zur selbstständigen Lebensführung fördern. Lehrkräfte müssen daher nicht nur unterrichten, sondern auch selbst lebenslang lernen.
Das Bayerische Lehrerbildungsgesetz (BayLBG, Art. 20) schreibt Lehrkräften eine Fortbildungspflicht vor. Dennoch zeigen Studien wie die der Vodafone-Stiftung (2017), dass Weiterbildung im Schulalltag oft unter schwierigen Bedingungen stattfindet:
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Lehrkräfte sind zwar lernbereit, sehen jedoch kaum Anreize oder Wirkungen auf ihre berufliche Laufbahn.
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Es fehlt an einer gelebten Lernkultur in Schulen.
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Der Wille zum Lernen findet häufig keine Resonanz im System.
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Es fehlt an Zeit, struktureller Unterstützung und Anerkennung für die kontinuierliche Weiterbildung von Lehrer*innen.
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, braucht es eine Schulentwicklung, die lebenslanges Lernen strukturell verankert, etwa durch mehr Zeiträume, Anreize und gezielte Unterstützung (Vodafone-Stiftung 2017, S. 10).
Bildungsverständnis
Bildung ist in diesem Sinne „sozial, zeitlich und räumlich nicht eingrenzbar, sondern geschieht der Möglichkeit nach immer dann, wenn Individuen an Kommunikations- und Handlungszusammenhängen teilnehmen, die dazu geeignet sind, Veränderungen im Individuum auszulösen“
(Scherr, 2004, S. 90) (auch: Grunert, 2015)
Eckert und Tippelt, 2017:
Bereits in den 1970ern entwickelten OECD und UNESCO die Idee des LLL als Reaktion auf:
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die Globalisierung und die Notwendigkeit transnationaler Bildungsgerechtigkeit,
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die Grenzen formaler Bildungssysteme,
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die Vision des „Weltbürgers“ als autonom lernender, gesellschaftlich aktiver Mensch.
→ Besonders prägend ist das 4-Säulen-Modell von Delors (1996):
Säule
Institution
Aufgabe / Ziel
Learning to know
Learning to do
Learning to live together
Learning to be
Schule
Arbeitsplatz
Öffentlichkeit
Privatsphäre
Formales Lernen
Qualifikation, Kompetenz
Verständnis anderer Personen und Kulturen
Selbstwirksamkeit, Solidarität, Ästhetik
Aus: Eckert, Tippelt (2017): Learning Regions - Learning Cities - Learning Communities, S. 51)
Brödel, R. (2011). Lebenslanges Lernen. In: Thomas Fuhr/Phillipp Gonon/Christiane Hof (Hrsg.). Erwachsenenbildung - Weiterbildung. Handbuch der Erziehungswissenschaft 4, Paderborn, 2011. S. 235-245.
Allgemeines Begriffsverständnis
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Lebenslanges Lernen (LLL) meint Lernen über die gesamte Lebensspanne, nicht nur im Erwachsenenalter.
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Es umfasst formales, non-formales und informelles Lernen.
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Im Fokus steht das lernende Individuum und seine Biografie, nicht das Bildungssystem.
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Lernen wird als ein kontinuierlicher Prozess verstanden – unabhängig von Institution und Lebensphase.
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LLL zielt auf eine Selbststeuerung des Lernens in Wechselwirkung mit Umwelt und gesellschaftlichen Anforderungen.
Lebenslanges Lernen als diskursübergreifendes Konstrukt
Zwei Hauptdiskurse:
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Bildungspolitischer Diskurs:
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Betonung der Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel, Employability, Modernisierung der Weiterbildung.
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LLL als steuerungsrelevantes Leitbild für nationale und EU-Politik.
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Erwachsenenpädagogischer / erziehungswissenschaftlicher Diskurs:
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Fokus auf biografische Lernprozesse, Subjektentwicklung und Aneignung im Kontext.
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→ Beide Diskurse überlappen sich: Transfer von Konzepten, Begriffen und Praxisimpulsen.
Konstruktivistisches Lernverständnis:
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Lernen als aktiver, selbstgesteuerter Prozess der Wissenskonstruktion.
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Bedeutung der Vorerfahrungen und subjektiven Wahrnehmung.
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Erkenntnis: Lernen ist individuell verschieden, nicht bloß Informationsaufnahme.
Kompetenzorientierung:
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LLL zielt nicht nur auf Wissen, sondern auf den Aufbau von Handlungsfähigkeit.
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Kompetenzen = „Potenzial zum selbstständigen Handeln in verschiedenen Lebensbereichen“ (Arnold).
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Betonung informellen, alltagsintegrierten Lernens (z. B. „situierte Kompetenzentwicklung“).
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Lernen wird als komplementäres Verhältnis von formellen & informellen Lernformen verstanden.
Lebenslanges Lernen als bildungspolitisches Konzept
Konzeptentwicklung und Reformziele:
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Ursprünge in den 1970er Jahren: OECD-Konzept „recurrent education“.
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LLL reagiert auf:
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demografischen Wandel,
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steigende Lebenszeit,
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Zunahme an Bildungsbedarfen im Lebensverlauf.
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Ziele u. a.:
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Durchlässigkeit im Bildungssystem,
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Modularisierung,
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bessere Chancengleichheit.
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Europäisches Leitdokument: „Memorandum über Lebenslanges Lernen“ (2000):
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Zugang und Inklusion verbessern.
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Lernmethoden modernisieren.
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Regionale Angebote und Beratung stärken.
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Ziel: Sicherung von Beschäftigungsfähigkeit über alle Lebensphasen.
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Konzeptkritik:
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Liessmann (2006): LLL sei ein Selbstzweck, dem ein echtes Bildungsziel fehle.
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Forneck (2001): LLL als „gigantisches Umerziehungsprojekt“ mit überzogenen Selbststeuerungserwartungen.
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Kritik an:
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der Überbetonung informellen Lernens als Lösung sozialer Ungleichheit.
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der falschen Annahme kontinuierlicher Lernverläufe.
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Forschung zeigt:
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Lernen ist häufig nicht linear, sondern von Umlernen, Verlernen und emotionalen Prozessen geprägt.
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Es gibt keine pauschale „Halbwertszeit des Wissens“ – Basiswissen bleibt oft stabil.
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Besonders dynamisch: Wissensbereiche wie IT, Medizin, Ökologie → Fokus auf vernetztes, problemlösendes Wissen.
Systembildung lebenslangen Lernens
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Seit ca. 2000: Trend zur Institutionalisierung von LLL – nicht nur in Deutschland.
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Aufbau eines Systems lebenslangen Lernens durch:
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neue Institutionstypen wie Lernzentren, Mehrgenerationenhäuser, Lernagenturen.
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Förderung durch BMBF und EU, z. B. Programm „Lernende Regionen“ (2001–2008).
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Merkmale:
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Niedrigschwelligkeit, sozialräumliche Orientierung, generationenübergreifende Begegnung.
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Ziel: Verknüpfung von Bildungsberatung, Kompetenzbilanzierung und lernunterstützenden Strukturen.
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Projekte zielen auf:
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Erhöhung der Selbststeuerungskompetenz,
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Netzwerkbildung,
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regionale Bildungsdatenbanken.
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Instrumente: Weiterbildungssparen, individuelle Lernbegleitung, Monitoring.
von Felden, H. (2020). Das Konzept des Lebenslangen Lernens. In: Identifikation, Anpassung, Widerstand. Lernwltforschung, vol 32. Springer VS, Wiesbaden.
Seit den 1990er Jahren hat sich das Konzept des lebenslangen Lernens in Deutschland etabliert, vorangetrieben durch bildungspolitische Initiativen mit internationalem Ursprung (UNESCO, OECD, EU). Es handelt sich um eine Top-down-Implementierung, die stark durch neoliberale Denkweisen geprägt ist.
Zentrale Merkmale des Konzepts
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Lebenslanges Lernen wird als Aktivierung individueller Lernressourcen verstanden – zur Bewältigung globaler Herausforderungen (z. B. Arbeitslosigkeit, Umweltkrisen).
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Der Fokus liegt auf selbstgesteuertem und informellem Lernen im Alltag, das möglichst effizient, flexibel und individuell erfolgt.
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Dabei wird Verantwortung auf das Individuum übertragen – strukturelle Rahmenbedingungen oder politische Veränderungen bleiben ausgeblendet.
Kritikpunkte
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Das Konzept ist stark ökonomisch funktionalisiert: Lernen wird als Investition in „Humankapital“ begriffen.
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Es wirkt ideologisch, da es scheinbar Freiheit und Selbstbestimmung verspricht, gleichzeitig aber implizit Druck zur Selbstoptimierung erzeugt.
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Die Betonung von Eigenverantwortung verschärft soziale Ungleichheiten – besonders für benachteiligte Gruppen, die weniger Ressourcen für Bildung mitbringen.
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Die Rolle des Staates verlagert sich von der Bereitstellung struktureller Hilfen zur moralischen Ermutigung – oder Sanktionierung – individueller Bildungsanstrengung.
Begriffliche und ideologische Einordnung
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Der Begriff „lebenslanges Lernen“ fungiert als mehrdeutiger „Umbrella-Term“, der verschiedene politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen vereint, jedoch viele innere Widersprüche verdeckt.
-
Im Vergleich zur klassischen Bildung (humanistisch, normativ, gesellschaftskritisch) ist lebenslanges Lernen vorwiegend:
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funktionalistisch
-
an ökonomischer Verwertbarkeit orientiert
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angepasst an neoliberale Steuerungslogiken
-
Fazit
Das Konzept des lebenslangen Lernens erscheint auf den ersten Blick bildungsoffen und emanzipatorisch, ist jedoch – so Von Felden – Teil neoliberaler Gouvernementalität: Es individualisiert Verantwortung, ignoriert strukturelle Bildungsungleichheiten und dient letztlich der Steuerung und Anpassung des Subjekts an ökonomische Anforderungen. Bildung verliert dadurch ihre kritische und emanzipatorische Kraft.
Christiane Hof (2009): Lebenslanges Lernen
Was bedeutet „lebenslanges Lernen“?
Der Begriff „lebenslanges Lernen“ ist mehrdeutig und bewegt sich zwischen einer anthropologischen Grundannahme und einem strategischen bildungspolitischen Leitbegriff. Hof unterscheidet zwei zentrale Perspektiven:
-
Lernen als anthropologisches Phänomen
Lernen gehört zur Grundstruktur menschlicher Existenz. Der Mensch ist – wie bereits Arnold Gehlen (1940) betonte – ein „Mängelwesen“, das nicht instinktgeleitet lebt, sondern seine Lebenswelt aktiv gestalten muss. Daraus ergibt sich:
→ Der Mensch lernt permanent, um sich seiner Umwelt anzupassen, kulturelle Normen zu verstehen, soziale Beziehungen zu gestalten und sein Leben sinnvoll zu führen.
→ Dieses Lernen ist nicht an Institutionen gebunden. Es geschieht in Alltagssituationen, sozialen Kontexten, durch Beobachtung, Versuch und Irrtum, Sprache, Erfahrung etc. -
Lernen als bildungspolitischer Imperativ
Seit den 1970er Jahren – besonders aber seit den 1990er Jahren im Kontext globaler ökonomischer Veränderungen – wird „lebenslanges Lernen“ zunehmend zum bildungsstrategischen Leitbild:
→ Es beschreibt eine Vorstellung, nach der Menschen kontinuierlich ihre Kompetenzen ausbauen sollen, um gesellschaftlich, beruflich und individuell „anschlussfähig“ zu bleiben.
→ Politisch forciert wird diese Vorstellung durch internationale Organisationen (z. B. UNESCO, OECD, EU), die lebenslanges Lernen als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit, sozialen Kohäsion und individueller Beschäftigungsfähigkeit begreifen.
→ Dabei verschiebt sich der Bildungsbegriff: Statt eines normativ-humanistischen Verständnisses dominiert ein ökonomisch-funktionalistischer Bildungsdiskurs.
Historische Entwicklung (nach Hof, S. 4–6)
-
Vormoderne Gesellschaften: Lernen war ein integraler Bestandteil des Alltags, stark eingebettet in Tradition und soziale Rollen. Es erfolgte in der Regel implizit – etwa über familiäre Weitergabe oder Nachahmung.
-
Moderne Gesellschaften (ab dem 18./19. Jh.):
Mit der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften und der industriellen Moderne entstehen formalisierte Bildungseinrichtungen (z. B. Schule, Berufsausbildung).
→ Lernen wird nun institutionell organisiert und in bestimmte Lebensphasen verlagert (Kindheit, Jugend).
→ Erwachsene galten lange als „ausgebildet“ – sie mussten nur noch ihr Wissen „anwenden“. -
Spätmoderne / Postindustrielle Gesellschaften:
Strukturwandel, technologische Innovation, Migration und Individualisierung führen dazu, dass das einmal Erlernte schnell veraltet.
→ Bildung wird nun als permanenter Prozess gedacht – „lebenslang“ in doppeltem Sinne: über die gesamte Lebenszeit hinweg und in ständig wechselnden Lernformen.
Kritik an der normativen Aufladung des Begriffs
Hof macht deutlich, dass die Rede vom „lebenslangen Lernen“ oft eine ideologische Funktion erfüllt:
-
Sie normiert Lernverhalten und definiert es zunehmend als individuelle Bringschuld: Wer sich nicht weiterbildet, gilt als selbst verantwortlich für seine sozialen oder beruflichen Nachteile.
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Es besteht die Gefahr einer De-Professionalisierung von Bildung: Wenn alles als „Lernen“ gilt (z. B. YouTube, Gaming, Beratungsgespräche), dann verlieren pädagogisch gestaltete Lernprozesse an Bedeutung – und zugleich steigen die Anforderungen an das Individuum.
-
Kritiker wie Illich oder Freire warnen vor einer „Schulgesellschaft“, in der das ganze Leben der Logik der Belehrung untergeordnet wird. Bildung verkommt zum ökonomischen Steuerungsinstrument, das Menschen nach Verwertbarkeit beurteilt.
Tippelt, R. (2006). Weiterbildungs- und Erwachsenenbildungsforschung als wichtiges Segment der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung.In H. Merkens (Hrsg.), Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung (S. 109-112). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Generell...
Unterscheidung einer …
- abschlussbezogenen
- adaptiven
- außerbetrieblichen
- berufsbezogenen
- externen
- innerbetrieblichen
- internen
…Weiterbildung
Historische und theoretische Einordnung
- Entstehung der Erwachsenenbildung im 19. Jahrhundert als soziale und pädagogische Praxis.
- Ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmende wissenschaftliche Systematisierung im Kontext lebenslangen Lernens.
- Etablierung als eigenständiger Bereich innerhalb der Erziehungswissenschaft.
Definition und Gegenstand der Bildungsforschung
- Bildungsforschung laut Deutschem Bildungsrat (1970):
- Untersuchung von Bildungs- und Erziehungsprozessen in gesellschaftlichem Kontext.
- Berücksichtigung aller Altersstufen und Lernorte (formell, non-formell, informell).
- Fokus auch auf organisatorische und ökonomische Rahmenbedingungen.
- Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung gehört zur Bildungsforschung im weiteren Sinne.
Erweiterte Perspektiven auf Weiterbildung
- Früher: Organisiertes Lernen nach der Erstausbildung (klassische Weiterbildung).
- Heute: Einbeziehung von:
- informellem Lernen im Alltag,
- Lernprozessen in der Erwerbsarbeit,
- kurzfristigem Anlernen und Einarbeiten.
Ziele der Erwachsenen- und Weiterbildung
- Kompetenzentwicklung des Individuums
- Förderung von Fähigkeiten, Wissen und Selbstständigkeit Erwachsener.
- Unterstützung lebenslangen Lernens im persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Leben.
- Innovationen im ökonomischen System
- Beitrag zur Qualifizierung der Arbeitskräfte.
- Anpassung an technische, wirtschaftliche und organisatorische Veränderungen.
- Förderung von Innovationsfähigkeit in Unternehmen und Organisationen.
- Soziale Integration und Kohäsion von verschiedenen sozialen Gruppen
- Reduktion sozialer Ungleichheiten durch Bildungschancen.
- Integration benachteiligter Gruppen (z. B. durch Alphabetisierung, Sprachkurse).
- Förderung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität.
- Politische Partizipation von Bürgern
- Stärkung demokratischer Kompetenzen und Meinungsbildung.
- Förderung der aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben.
- Bildung als Grundlage für mündige Bürger*innen.
Interdisziplinarität der Forschung
- Beteiligte Disziplinen:
- Erziehungswissenschaft
- Bildungssoziologie
- Lernpsychologie
- Betriebswirtschaft
- Arbeitspsychologie
- Kommunikations- und Medienwissenschaft
- Kooperation mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur und Sozialwesen.
Forschungsfelder (nach Egloff/Kade 2004)
- Adressaten- und Teilnehmerforschung
- Professionsforschung (Professionalisierung der Lehrenden)
- Institutions- und Organisationsforschung
- Lehr-/Lernforschung und didaktische Forschung
Verbindung zur Lebenslauf- und Biographieforschung
- Einfluss von Lebensalter, Biografie und kulturellem Kontext.
- Drei Ansätze:
- Quantitative Lebenslaufforschung (Analyse des Handels best. Akteure unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen)
- Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (Systematische Beschreibung der Entwicklungsaufgaben und der Entwicklungskrisen (Lebenslauf – Lebens- Berufs- und Familienzyklen))
- Qualitative Biographieforschung (Rekonstruktion der individuellen Entwicklung (in Differenz zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Lebensverlaufsmuster))
- Bedeutung: Berücksichtigung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren bei Bildungsmaßnahmen.
Empirische Forschung zur beruflichen Weiterbildung
- Datenbankanalysen (1990er und 2005) zeigen:
- ca. 335 aktuelle Projekte zur beruflichen/betrieblichen Weiterbildung.
- Forschung erfolgt sowohl universitär als auch außeruniversitär.
- Viele Projekte sind interdisziplinär angelegt.
- Abgrenzung zwischen beruflicher und allgemeiner/kultureller Weiterbildung oft schwierig.
- Forschung ist theoriebasiert und empirisch fundiert, häufig in Verbundprojekten organisiert.
Eckert & Tippelt (2017) „Learning Regions – Learning Cities – Learning Communities. Auf dem Weg zur Gestaltung regionaler Bildungsräume?“
Es geht um die Frage:
Wie kann Bildung heute so organisiert werden, dass Menschen wirklich ihr ganzes Leben lang lernen können – und zwar dort, wo sie leben?
Der Text zeigt: Bildung findet nicht nur in Schulen oder Unis statt. Auch Städte, Gemeinden oder ganze Regionen können zu sogenannten „lernenden Bildungsräumen“ werden – also zu Orten, wo formale Bildung (z. B. Schule), non-formale Bildung (z. B. Volkshochschule) und informelle Bildung (z. B. Familie, Freizeit, Medien) miteinander verbunden werden.
Warum ist das wichtig?
Unsere Gesellschaft verändert sich rasant:
-
Digitalisierung, Migration, Globalisierung, neue Arbeitsformen ...
-
→ Das heißt: Wir müssen ständig Neues lernen – im Beruf, in der Familie, im Alltag.
Die klassischen Bildungsorte (z. B. Schule) können das nicht mehr alleine leisten.
Deshalb fordern Organisationen wie die UNESCO, die OECD oder die EU:
Bildung muss überall zugänglich sein – am besten im direkten Lebensumfeld der Menschen.
→ Die Lösung: „Learning Regions“ oder „Learning Cities“ (also lernende Städte oder Regionen).
Was sind „Learning Regions“ oder „Learning Cities“?
Das sind Städte oder Regionen, in denen:
-
viele verschiedene Einrichtungen (z. B. Schulen, Kitas, VHS, Jugendzentren, Museen) vernetzt zusammenarbeiten,
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Bildung auf alle Lebensphasen ausgeweitet wird,
-
auch soziale Themen wie Teilhabe, Nachhaltigkeit, Integration mitgedacht werden,
-
Daten (Monitoring) gesammelt werden, um Bildungsangebote gezielt zu verbessern.
Kurz:
Lernen soll nicht dem Zufall überlassen, sondern aktiv geplant, koordiniert und gefördert werden – regional angepasst.
Und was kritisiert der Text?
Der Text zeigt auch Probleme:
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Vieles bleibt symbolisch (schöne Projekte – aber keine dauerhafte Wirkung).
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Nach Förderende fehlt oft das Geld zur Weiterführung.
-
Manchmal wird Bildung nur noch in Zahlen gemessen (Indikatoren, Rankings) – das kann entmenschlichend wirken.
-
Zu starke Nähe zu neoliberalen Ideen (jeder ist selbst schuld, wenn er sich nicht „weiterbildet“).
Deshalb:
Der Text plädiert für eine kritische, reflektierte, sozial gerechte Gestaltung regionaler Bildungsräume.
Indikatorensysteme und Bildungsmonitoring (S. 56–58)
UNESCO-Ansatz:
-
Dreistufiges Konzept:
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Politische Voraussetzungen (z. B. politischer Wille, Stakeholderbeteiligung),
-
Hauptelemente: Inklusion, Arbeitsplatzlernen, technologische Zugänge, Qualität, Lernkultur,
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Resultate: individuelle Entwicklung, soziale Kohäsion, wirtschaftlicher Nutzen.
-
→ Insgesamt 56 Indikatoren (z. B. Weiterbildungsquote), oft angelehnt an UN/OECD-Standards.
Problematik in der Praxis:
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Datenverfügbarkeit auf regionaler Ebene oft eingeschränkt (z. B. Mikrozensus vs. AES),
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Unterschiedliche Konzepte und Messmethoden (z. B. ELLI vs. UNESCO-Indikatoren),
-
Notwendigkeit der Verzahnung von nationalem, internationalem und lokalem Monitoring.
Regionales Bildungsmonitoring (S. 58–60)
-
Notwendig für differenzierte Planung: regionale Disparitäten, Sozioökonomie, Migration, Gender.
-
Kombination aus Sekundärdaten, regionalen Erhebungen, Szenarien statt Prognosen.
-
Differenzierung zwischen normativen und atypischen Bildungsverläufen über die Lebensspanne.
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Herausforderung: fehlende Daten, Notwendigkeit zur kontinuierlichen Indikatorenerhebung.
Netzwerk- und Raumkonzepte (S. 60–62)
-
Collective Impact (USA): gemeinsame Agenda, Evaluation, Kommunikation, Koordination.
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Bildungslandschaften als pädagogisch gestaltbare Räume, geprägt durch Kooperation über institutionelle Grenzen hinweg.
-
Räume werden nicht nur administrativ, sondern durch soziale Netzwerke bestimmt.
Fazit: Learning Cities und Regions als gestaltbare Bildungsräume (S. 62–63)
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Unterschiedliche Governance-Strategien: Top-down (UNESCO), Mix (OECD), Bottom-up (Lernen vor Ort).
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Kritische Perspektive: Nähe zum Neoliberalismus (Wettbewerb, Deregulierung, Steuerung durch Indikatoren).
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Alternative Netzwerkperspektive: Vertrauen, Zusammenarbeit, dezentrale Steuerung.
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Ergebnis: Vielfalt regionaler Steuerungsmöglichkeiten, aber auch Herausforderung durch Fragmentierung.
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Monitoring = Grundlage für evidenzbasierte Bildungspolitik, aber: Bürokratisierung vermeiden.
Autorengruppe Berichterstattung (2024). Bildung in Deutschland 2024: Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung.
Schule & allgemeine Bildung
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104.000 Bildungseinrichtungen, 17,9 Mio. Bildungsteilnehmende (2022).
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Zuwachs in Kitas: +22 % (seit 2012), Hochschulen: +17 %.
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Rückgang beruflicher Schulen: –12 %.
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Prognose: Sekundarstufe-I-Schüler:innen steigen bis 2032 auf 4,7 Mio..
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Gymnasien verzeichnen stärksten Zuwachs.
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Übergänge stark von sozialer Herkunft geprägt → Ungleichheit beim Gymnasialzugang.
Pädagogisches Personal
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Beschäftigtenzahl im Bildungswesen (2012–2022): deutlich gestiegen.
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Frühkindliche Bildung: +48 %
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Hochschulen: +25 %
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Frauenanteil im pädagogischen Bereich: 72 % (vs. 47 % im Gesamtarbeitsmarkt).
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Teilzeitquote: 55 % (allgemein: 30 %).
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Lehrkräftemangel – besonders in MINT-Fächern und Grundschulen.
Weiterbildung im Erwachsenenalter
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Teilnahme insgesamt gestiegen, aber sozial ungleich verteilt:
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Höhere Bildungsgruppen nehmen häufiger teil.
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Geringqualifizierte profitieren am stärksten – nehmen aber am wenigsten teil.
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Digitale Formate nehmen zu.
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Weiterbildungspersonal häufig prekär beschäftigt, v. a. freiberufliche Dozent:innen.
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Positive Wirkungen auf:
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Beschäftigungsfähigkeit
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Einkommen
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Lebenszufriedenheit & Teilhabe
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