„Die Bedeutung der Werte-Bildung für die Professionalisierung angehender LehrerInnen“ von Susanne Müller-Using (2013)
1. Grundverständnis von Werte-Bildung und Lehrerrolle
S. 65–67
Lehrer:innen agieren in einem komplexen Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen. Ihr pädagogisches Handeln soll auf einer demokratischen Wertgrundlage basieren (z. B. Grundrechte des GG, EU-Grundwerte). Dabei kommt ihnen eine Vorbildfunktion zu. Pädagogik wird als „Erziehungskunst“ verstanden, in der Wissen, Werte und Persönlichkeitsbildung miteinander verschränkt sind.
2. Werte-Bildung in der schulischen Praxis – Beispielanalyse
S. 67–68
Anhand eines Interviewauszugs mit einer Grundschullehrerin wird aufgezeigt, dass sprachliche Unsicherheit und mangelnde Reflexion über Werte weit verbreitet sind. Viele Lehrkräfte können Werte nicht explizit benennen, obwohl sie implizit im Alltag wirksam sind.
3. Werte als Teil professionellen Lehrerhandelns
S. 69–71
Die Kultusministerkonferenz (KMK) betont in ihren Standards (2000 & 2004) die Bedeutung von Wertevermittlung:
-
Lehrkräfte sollen Vorbilder sein
-
Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Empathie und Wertorientierung sind zentrale Anforderungen
-
Kompetenzbereich „Erziehen“ beinhaltet explizit die Fähigkeit zur Wertevermittlung
4. Schulischer Bildungsauftrag & Menschenrechte
S. 71–74
Laut Schulgesetzen (z. B. BayEUG) und internationalen Menschenrechtsabkommen (z. B. UN-Kinderrechtskonvention) soll Bildung zur Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und einem demokratischen Miteinander beitragen.
➡ Lehrer:innen müssen diese Wertziele kennen, reflektieren und im Schulalltag umsetzen.
5. Internationale Vergleiche – Vorbild Finnland
S. 73–74
In Finnland gibt es sogenannte „opportunity to learn standards“, die auch Wertziele systematisch in den Lehrplan integrieren. Eine ähnliche Verbindlichkeit fehlt in Deutschland. Evaluationen könnten auch hierzulande helfen, die Umsetzung wertebezogener Bildungsziele zu überprüfen.
6. Lehrerbildung: Anforderungen und Defizite
S. 70, 75–78
In der Lehrerbildung fehlt es oft an:
-
verbreiteten, reflektierten Ausbildungskonzepten zur Werte-Bildung
-
systematischer Einbindung pädagogisch-ethischer Reflexion
-
empirischer Forschung zu Werthaltungen, beliefs, soft skills
Das Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert/Kunter) inkludiert Wertehaltung und Überzeugungen zwar implizit, sie werden aber nicht ausreichend ausgebildet.
7. Menschenwürde als Leitprinzip
S. 79–80
Werte-Bildung bedeutet auch: menschenwürdige Bildung. Lehrer:innen müssen Würde vorleben, achtsam handeln und sich der Bedeutung ihres pädagogischen Handelns für die Schüler:innen bewusst sein.
Zentrale Frage: Wie kann pädagogisches Handeln zur Stärkung der Menschenwürde beitragen?
8. Schlussfolgerung für die Lehrerbildung
S. 80–81
Die Vermittlung von Werten braucht:
-
Interdisziplinäre Konzepte
-
Wissenschaftlich fundierte Lehrerbildung
-
Verankerung von pädagogisch-ethischen Standards
➡ Nur wer selbst in Werten gebildet ist, kann orientierungsstiftende Bildung vermitteln.
Regenbogen (2013): Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft
Was sind Werte?
-
Werte haben laut Regenbogen drei Funktionen (S. 16–17):
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Ideale Lebensmuster (z. B. Glück, Vertrauen)
-
Zukunftsziele (z. B. Erfolg, Reife)
-
Maßstäbe zur Beurteilung (z. B. Gerechtigkeit, Toleranz)
-
-
Werte können emotional erlebt (implizit) oder sprachlich reflektiert (explizit) sein.
-
Wertebildung heißt: Bildung in Werten (durch Sozialisation) + Bildung von Werten (durch Selbstreflexion).
Werte sind Dinge, die uns wichtig sind – wie Gerechtigkeit, Liebe oder Erfolg.
Manche spüren wir einfach (z. B. Glück), andere können wir klar benennen (z. B. Toleranz).
Kinder lernen Werte durch ihr Umfeld – aber auch durch Nachdenken darüber, was ihnen selbst wichtig ist.
Wie verändern sich Werte?
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Wandel von „Tugenden“ (z. B. Gehorsam, Fleiß) hin zu „Werten“ (z. B. Selbstständigkeit, Autonomie) im 20. Jh. (S. 18–20).
-
Soziologen wie Weber und Parsons:
-
Wertrationales Handeln: aus Überzeugung (z. B. Spende)
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Zweckrationales Handeln: aus Nutzen (z. B. Geldanlage)
-
-
Gesellschaftliche Werte sind Orientierungsmuster für individuelles Handeln.
Früher ging es um Gehorsam – heute eher um freie Entscheidungen.
Man tut Dinge nicht nur, weil sie nützlich sind, sondern auch, weil man sie für richtig hält.
Werte helfen uns, Entscheidungen zu treffen – selbst wenn sie nicht vorgeschrieben sind.
Wertewandel in der Erziehung
-
EMNID-Studien (1950–1995) zeigen:
-
Rückgang von „Gehorsam und Unterordnung“
-
Anstieg von „Selbstständigkeit und freier Wille“ (S. 21–22)
-
-
Erziehungsziele sollen Selbstverantwortung und Autonomie fördern.
Eltern und Lehrkräfte wünschen sich heute, dass Kinder selbstständig denken und handeln – nicht nur brav folgen.
Werte wie Eigenverantwortung werden in unserer Gesellschaft immer wichtiger.
Theorien der Werteerziehung
Kohlberg (S. 23–24):
-
Stufenmodell moralischer Entwicklung: von konventionell zu postkonventionell
-
Ziel: moralische Urteile jenseits bloßer Normen
Gilligan:
-
Ergänzt Kohlberg durch Ethik der Fürsorge (nicht nur Gerechtigkeit)
Wertklärung (Raths et al.) (S. 24–25):
-
Förderung eigenständiger Werthaltungen durch Gespräche
-
Kritik: Gefahr egozentrischer Orientierung
Kinder und Jugendliche können moralisch reifen – von „Ich mache das, weil man es sagt“ zu „Ich tue das, weil ich davon überzeugt bin“.
Manche Theorien betonen Gerechtigkeit, andere Fürsorge.
Ein gutes Werterziehungskonzept hilft Kindern, ihre eigenen Werte zu finden – und auch zu vertreten.
Emotionale Werte & implizite Werthaltungen
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Emotionale Werte (z. B. Glück, Liebe, Vertrauen) sind oft tief verankert und schwer zu fassen (S. 26–27).
-
Diese können Grundlage für spätere bewusste Wertebildung sein.
Nicht alles, was uns wichtig ist, können wir sofort benennen.
Gefühle wie Vertrauen oder Liebe prägen unser Verhalten oft, lange bevor wir sie bewusst verstehen.
Diese Gefühle sind ein wichtiger Teil der Wertebildung.
Wertebildung in Schule & Gesellschaft
-
Gesellschaft braucht gemeinsame Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit, Verantwortung (S. 27).
-
Schule hat den Auftrag, Wertebildung zu ermöglichen – durch Diskurse, Gespräche, Erfahrungen.
-
Voraussetzung: ein Klima der Offenheit, Toleranz und Akzeptanz.
Damit eine Gesellschaft funktioniert, braucht sie gemeinsame Werte.
In der Schule sollen Kinder lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden – und andere Meinungen zu respektieren.
Dafür brauchen sie ein Umfeld, in dem offen diskutiert und nachgedacht werden darf.
Wertebildung- Kinder entwickeln eigene Werte durch Erziehung & Nachdenken
Wertrationalität - Handeln aus Überzeugung, nicht nur aus Nutzen
Postkonventionell - Eigenes moralisches Urteil, jenseits von Regeln
Wertklärung - Pädagogisches Gespräch über persönliche Werte
Tugend - Früher: Pflicht & Disziplin; heute durch Werte ergänzt
Wertewandel - Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen über Zeit
Albert, M., Hurrelmann, K., Quenzel, G., Schneekloth, U., Leven, I. & Utzmann, H. (2019). Jugend 2019: Eine Generation meldet sich zu Wort (1. Aufl.). Shell-Jugendstudie. Beltz. S. 13-33.
Grundlegendes...
Untersuchungsdesign (18. Shell Jugendstudie (2019)):
- Repräsentative Befragung von 2.572 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren in ganz Deutschland.
- Erhebungszeitraum: Januar bis März 2019.
- Standardisierte Interviews im persönlichen Kontakt (face-to-face).
- Die Stichprobe wurde gewichted, um die tatsächliche Bevölkerungsstruktur abzubilden.
- Ziel der Studie: Die Einstellungen, Lebensrealitäten, Erwartungen und Wertorientierungen der jungen Generation wissenschaftlich fundiert zu erfassen und über die Zeit hinweg vergleichbar zu machen.
- Gesellschaftsbild:
- Die Studie liefert ein differenziertes Bild einer Generation, die trotz Vielfalt nicht gespalten
- Unterschiede nach Geschlecht, Herkunft, Bildung, Region oder Migrationshintergrund sind vorhanden – aber keine dominanten Bruchlinien, die auf Polarisierung oder Entfremdung hinweisen.
- Jugendliche teilen übergreifend ähnliche Werte, Zukunftsvorstellungen und Gerechtigkeitserwartungen.
18. Shell Jugendstudie (2019)
Die Shell Jugendstudie 2019 zeichnet das Bild einer jungen Generation, die sich zunehmend selbstbewusst, werteorientiert und gesellschaftlich wach präsentiert. Jugendliche fordern mehr Mitsprache in Zukunftsfragen, insbesondere in Bezug auf Klima, Umwelt und soziale Gerechtigkeit. Dabei bleibt ihre pragmatische Grundhaltung erhalten: Sicherheit, stabile Beziehungen und individuelle Chancen sind ihnen ebenso wichtig wie gesellschaftliches Engagement.
Trotz der medial diskutierten Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Migrant:innen und Einheimischen oder zwischen sozialen Schichten zeigt sich: Es gibt mehr Verbindendes als Trennendes. Jugendliche wollen teilhaben, Verantwortung übernehmen – und viele von ihnen zeigen bereits Engagement, etwa im Umweltschutz oder sozialen Bereich. Zugleich wird sichtbar, dass Populismusaffinität, soziale Benachteiligung und Bildungslücken weiterhin Herausforderungen darstellen – und eng miteinander verknüpft sind.
Insgesamt steht die Jugend 2019 für einen Wertewandel: weg von rein materialistischen Zielen, hin zu Bewusstsein, Nachhaltigkeit, Vielfalt und Mitgestaltung. Es handelt sich um eine Generation, die – wenn man sie ernst nimmt – einen wichtigen Impuls für eine offenere, gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft geben kann.
Die 18. Shell Jugendstudie 2019 untersucht die Lebenswelt von Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren in Deutschland.
Untersucht werden sechs thematische Felder...
1. Politik und Gesellschaft (S. 14–17)
- Politisches Interesse: 8 % stark interessiert, 33 % interessiert. Besonders Studierende (66 %) und Abiturient:innen zeigen hohes Interesse. Jungen (44%) zeigen vermehrt politisches Interesse als Mädchen (38%).
- Informationsquellen: Die Mehrheit aller Jugendlichen informiert sich online - Am meisten genutzt werden Nachrichten- Websites oder News-Portale (20 %), Social Media (14 %), YouTube (9 %). Das Fernsehen dient nicht mehr als gezielte politische Informationssuche. Wird dennoch benannt (Fernsehen 23%, Radio 15%, Printmedien 15%). Vertrauen liegt aber bei klassischen Medien wie ARD, ZDF. Bei überregionalen Tageszeitungen liegt das vertrauen im Westen bei 83 % und im Osten bei 68 %.
- Sorgen:
- Umwelt- und Klimaschutz rücken in den Fokus der persönlichen Betroffenheit:
Umweltverschmutzung (74 %), Terror (66 %), Klimawandel (65 %), Armut (52 %). Polarisierung der Gesellschaft macht 56 % Sorgen.
- Angst vor einer wachsenden Feindlichkeit zwischen Menschen (56%):
(im Westen (55%; im Osten 59%)
- Angst vor einer wachsenden Ausländerfeindlichkeit (52%):
Jeder zweite (Westen: 47%, Osten: 55%) spricht sich dafür aus, weniger Zuwanderer aufzunehmen.
- Deutschland ist gerecht…
59 % sehen Deutschland als gerecht, 79 % meinen, jeder habe Ausbildungschancen. Soziale Herkunft beeinflusst stark die Wahrnehmung, 57% sind der Meinung, dass man in Deutschland leistungsgerecht bezahlt wird, 55% meinen, dass Benachteiligte ausreichend bezahlt werden.
- EU bedeutet Chancen, Wohlstand, kulturelle Vielfalt und Frieden: 7% sehr positiv und 43 % positiv eingestellt, nur 7 % negativ und 1% sehr negativ. Wichtig sind Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt (80 %), Frieden, Demokratie. Bürokratie kritisch gesehen (drei von vier Jugendlichen.
- Zwischen Weltoffenheit und Populismusaffinität: 57% finden die Aufnahme von Flüchtlingen gut. Allerdings: Zustimmung zu populistischen Aussagen teilweise hoch, z. B. 68 % sagen, man dürfe nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne als Rassist zu gelten.
- Gruppenverteilung: Kosmopoliten (12 %) (Sie befürworten, dass Deutschland viele Ausländer aufgenommen hat – lehnen populistisch gefärbte Statements ab), Weltoffene (27 %) (ebenfalls Befürworter – distanzieren sich von explizit sozial- oder nationalpopulistischen Statements), Nicht-eindeutig-Positionierte (28 %) (Schon Befürworter – jedoch Misstrauen gegenüber der Regierung), Populismus-Geneigte (24 %), Nationalpopulisten (9 %) (Zustimmung aller populistisch aufgeladenen Statements – ablehnende Haltung gegenüber Vielfalt).
- „Je höher die Bildungsposition, desto geringer die Populismusaffinität“ (S. 17)
- Fazit: Jugendliche sind politisch interessiert, zeigen aber zunehmende Sorgen über Umwelt, gesellschaftliche Spaltung und äußern ambivalente Haltungen gegenüber Populismus.
- Gruppenverteilung: Kosmopoliten (12 %) (Sie befürworten, dass Deutschland viele Ausländer aufgenommen hat – lehnen populistisch gefärbte Statements ab), Weltoffene (27 %) (ebenfalls Befürworter – distanzieren sich von explizit sozial- oder nationalpopulistischen Statements), Nicht-eindeutig-Positionierte (28 %) (Schon Befürworter – jedoch Misstrauen gegenüber der Regierung), Populismus-Geneigte (24 %), Nationalpopulisten (9 %) (Zustimmung aller populistisch aufgeladenen Statements – ablehnende Haltung gegenüber Vielfalt).
- Toleranz bleibt Markenzeichen (S. 17–18)
Toleranz gegenüber Flüchtlingen als Nachbarn: 80 % tolerant, 20 % haben Vorbehalte. Ähnlich bei türkischen Familien (18 %), homosexuellen Paaren (9 %) und jüdischen Familien (8 %).
- Nationalpopulisten zeigen überdurchschnittlich hohe Ablehnung (z. B. 33 % gegen jüdische Nachbarn).
- Jugendliche mit islamisch geprägtem Migrationshintergrund lehnen häufiger Homosexuelle (18 %) und jüdische Nachbarn (14 %) ab als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.
- Fazit: Toleranz ist unter Jugendlichen weit verbreitet, aber bei populismusaffinen Gruppen und bestimmten Herkunftsgruppen bestehen auffällige Vorbehalte.
- Demokratiezufriedenheit ist bei Jugendlichen im Osten deutlich angestiegen (S. 18)
- 77 % der Jugendlichen sind mit der Demokratie zufrieden.
- Ostdeutsche Jugendliche zeigten seit 2015 einen starken Anstieg in der Zustimmung (jetzt: ca. 67 %).
- Nationalpopulisten: 65 % unzufrieden mit Demokratie, 73 % wünschen sich eine „starke Hand, die für Ordnung sorgt“.
- Politikverdrossenheit: 71 % glauben, Politiker kümmern sich nicht um „Leute wie mich“.
- Fazit: Die Demokratie wird von einer großen Mehrheit geschätzt – aber Populismus und Politikverdrossenheit bleiben verbreitet, vor allem in unteren sozialen Schichten.
- Persönliches Engagement von Jugendlichen schwankt und erscheint leicht rückläufig (S. 19)
- 33–40 % der Jugendlichen engagieren sich (sozial oder politisch). Leichte Rückgänge beobachtbar.
- Engagement ist stärker in höheren sozialen Schichten ausgeprägt.
- Fazit: Das persönliche Engagement Jugendlicher bleibt stabil, ist aber tendenziell rückläufig und sozial unterschiedlich verteilt.
- Optimistischer Blick in die Zukunft (S. 19)
- 58 % optimistisch, 37 % gemischt, 5 % eher pessimistisch.
- Jugendliche aus unteren Schichten zeigen mehr Optimismus als 2015.
- Gesellschaftliche Zukunft sehen 52 % positiv – stabil seit 2015.
- Fazit: Jugendliche bleiben überwiegend optimistisch, besonders für ihr eigenes Leben – trotz wachsender Umwelt- und Klimasorgen.
2. Wertorientierungen (S. 20–23)
- Familie und Beziehungen bleiben für die eigene Lebensführung die zentralen Orientierungspunkte: Familie, soziale Beziehungen, Eigenverantwortung (89 %), Unabhängigkeit (83 %), Respekt vor Gesetz und Ordnung (87 %).
- Bewusste Lebensführung und eigener Gestaltungsanspruch: Gesundheitsbewusstsein (ca. 80 %) (-> interessant: ungefähr gleich wichtig, wie der Wunsch nach Unabhängigkeit, die Bedeutung von Fleiß und Ehrgeiz sowie der Lebensgenuss), Umweltbewusstsein (73 %), politisches Engagement (34 %) steigen.
- Soziales Engagement: Hilfe für Benachteiligte (62 %) ist wichtiger als Macht und Durchsetzungskraft (33 %).
- „Junge Frauen als Trendsetter einer bewussteren Lebensführung“ (S. 22): Frauen zeigen mehr Umweltbewusstsein und Sozialorientierung, Männer betonen eher Macht und Einfluss.
- Fazit: Jugendliche orientieren sich zunehmend an idealistischen und ökologischen Werten – besonders junge Frauen zeigen hier eine Vorreiterrolle.
- „Jugendliche aus der untersten Herkunftsschicht fühlen sich deutlich stärker benachteiligt“: 2/3 empfinden mangelnde Kontrolle.
- Durchsetzungswille höher (59 %), Umweltbewusstsein niedriger.
- „Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden sich nicht in ihren zentralen Lebenszielen“ (S.23): Jugendliche mit Migrationshintergrund zeigen hohe Leistungsorientierung, aber auch stärkere Benachteiligungserfahrungen. Mehr als 40% der Jugendlichen mit Migrationserfahrungen sehen sich im Alltag häufiger als benachteiligt.
- Fazit: Soziale Herkunft prägt Wertebewusstsein und Benachteiligungsempfinden deutlich – besonders in unteren Schichten und bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
3. Familie und Lebenswelten (S. 24–25)
- „Beziehung zu den eigenen Eltern auch weiterhin überaus positiv“ (S. 25):
42 % kommen „bestens“ mit den Eltern aus, 50 % gut trotz Meinungsverschiedenheiten.
Eltern als Erziehungsvorbilder: 16% würden ihre Kinder genauso erziehe, 58% ungefähr so.
- 68 % wünschen sich Kinder, Frauen etwas häufiger als Männer. Der Kinderwunsch Ostdeutscher Frauen ist seit 2002 rückläufig.
- „Partnerschaft und Vorstellungen von partnerschaftlicher Aufteilung der Erwerbstätigkeit“: 54 % bevorzugen ein männliches Versorgermodell; im Osten ist das weniger verbreitet.
- Fazit: Familie bleibt zentral, das Elternverhältnis ist stabil positiv – traditionelle Rollenbilder dominieren allerdings nach wie vor, v. a. im Westen.
- „Freundschaften: Qualität zählt mehr als Quantität“ (S. 25)
- Für 97 % sind gute Freunde wichtig, nur 7 % legen Wert auf viele Bekanntschaften.
- 67 % haben nur Freund:innen, mit denen sie auch offline Kontakt haben.
- Zufriedenheit mit Freundeskreis: 48 % sehr zufrieden, 41 % zufrieden.
- Fazit: Freundschaften sind bedeutend – Qualität zählt mehr als Quantität und offline bleibt zentral.
- „Bedeutung von Religion, Glaube und Kirche“ (S. 26)
- Glaube verliert unter christlichen Jugendlichen weiter an Bedeutung:
- Wichtig ist der Glaube nur noch für 39 % der katholischen und 24 % der evangelischen Jugendlichen.
- Deutlich anders sieht es bei muslimischen Jugendlichen aus: Für 73 % von ihnen ist der Glaube wichtig.
- Einstellung zur Kirche:
- Insgesamt sagen 69 %, dass sie es gut finden, dass es die Kirche gibt.
- Davon: 75 % der Katholiken, 79 % der Evangelischen, und sogar 45 % der Konfessionslosen.
- Fazit: Zusammenfassung: Der Glaube verliert unter christlichen Jugendlichen stark an Relevanz, muslimische Jugendliche bleiben hingegen stark religiös geprägt – die Institution Kirche wird aber mehrheitlich positiv bewertet.
4. Bildung und Beruf (S. 26–27)
- „Soziale Herkunft und Bildung korrelieren nach wie vor“ (S. 27):
- Gymnasialbesuch stieg von 41 % (2002) auf 47 % (2019). (Mädchen besuchen deutlich häufiger das Gymnasium als Jungen (53% zu 42%)
- Haupt-/Realschule gingen von 50 % auf 25 % zurück.
- Soziale Herkunft entscheidet stark über Bildungsweg:
- Gymnasialquote bei Jugendlichen aus oberer Schicht: 71 %; aus unterer Schicht: 13 %.
- Optimismus bzgl. Bildungsweg:
- Trotz Unsicherheiten bleiben SchülerInnen und Auszubildende mehrheitlich zuversichtlich.
- Jugendliche mit Bildungslücken oder Brüchen sind nur zu 47 % bzw. 30 % optimistisch.
- „Erwartungen an den Beruf erweisen sich als sehr stabil – Sicherheit weiterhin an erster Stelle“ (S. 27):
- 93 % wünschen sich einen sicheren Arbeitsplatz.
- Auch Freizeit (93 %) und Vereinbarkeit mit Familie sind sehr wichtig.
- Jugendliche Berufstypen:
- Durchstarter (32 %): alles ist ihnen wichtig – Karriere, Sinn, Sicherheit.
- Idealisten (21 %): legen Wert auf Erfüllung, wenig auf Karriere.
- Bodenständige (24 %): Sicherheit, Planbarkeit, wenig Interesse an Vereinbarkeit oder Sinn.
- Distanziert (23 %): geringe Bedeutung von Beruf allgemein, außer Planbarkeit.
- Fazit: Bildung bleibt stark von Herkunft geprägt – im Beruf dominieren Sicherheit, Sinn und Vereinbarkeit, wobei vier klare Orientierungstypen erkennbar sind.
5. Freizeit
Wichtigste Aktivitäten:
- Mit anderen treffen: 55 % (2002: 62 %).
- Unternehmungen mit der Familie: 23 % (2002: 16 %).
- Video-Streaming: 45 % (2015: 15 %).
- Fernsehen: nur noch 33 % (früher 49 %).
- Gaming: 23 % insgesamt, 57 % bei Jungen (12–14).
- Sport: aktiv (27 %), Freizeitsport (24 %).
- Lesen & kreative Tätigkeiten rückläufig, bei jungen Frauen aber wieder zunehmend.
Freizeit-Typen:
- Medienfokussierte (37 %): stark bei Streaming und Gaming, viele Jungen.
- Familienorientierte (31 %): konsumieren klassische Medien, viele Mädchen.
- Gesellige (17 %): gehen häufig aus, meist älter.
- Kreativ-engagierte Aktive (15 %): kulturell aktiv, häufig weiblich, gut gebildet.
- Fazit: Freizeit ist digitaler geworden – klassische Medien verlieren an Bedeutung, während kreative Aktivitäten bei jungen Frauen an Beliebtheit gewinnen.
6. Internetnutzung und digitale Lebenswelt
„Wege ins Internet und Dauer der Nutzung“ (S. 30)
- Smartphone ist das wichtigste Zugangsgerät (70 %).
- Tägliche Nutzungsdauer: 3,7 Stunden im Durchschnitt.
- Keine relevanten Unterschiede nach Geschlecht, Alter oder sozialer Herkunft
Top-Aktivitäten:
- Kommunikation (z. B. WhatsApp): 96 % täglich.
- Unterhaltung (Musik, Videos, Gamen): 76 % täglich.
- Informationssuche (Schule, Beruf, Politik): 71 % täglich.
- Selbstdarstellung (z. B. eigene Posts): nur 12 % täglich.
- Fazit: Jugendliche nutzen das Internet intensiv, vorrangig für Kommunikation und Information – weniger für Selbstinszenierung.
- „Bedenken und Verunsicherung im Netz“ (S. 30–31)
- Daten- und Kontrollsorgen:
- 60 % stört, dass sie Teil eines Geschäftsmodells sind.
- 61 % befürchten Kontrollverlust über eigene Daten.
- Hate Speech & Fake News:
- Hate Speech: 58 % sehen das als Problem.
- Fake News: 51 % halten sie für verbreitet.
- Fear of Missing Out:
- 40 % haben Angst, etwas zu verpassen.
- 38 % sagen, ihnen würde „das halbe Leben fehlen“, wenn sie ihr Smartphone verlieren.
- Datenschutzverhalten: Nur 31 % kontrollieren aktiv die Datenschutzeinstellungen.
- Fazit: Jugendliche haben viele digitale Sorgen – aber nur ein kleiner Teil zieht daraus konkrete Handlungsfolgen.
- „Typologie der Internetnutzung“ (S. 32)
- Unterhaltungs-Konsumenten (33 %): Viel Social Media & Streaming, wenig Information.
- Funktionsnutzer (24 %): nutzen v. a. Messenger, Informationssuche, Schule/Beruf.
- Intensiv-Allrounder (19 %): alles sehr intensiv, besonders soziale Medien.
- Achtsame Nutzer (15 %): weniger Zeit online, kritisch und datenschutzsensibel.
- Selbstdarsteller (9 %): aktiv mit Posts und Inhalten.
- Fazit: Die Internetnutzung Jugendlicher ist sehr vielfältig – von Informationsorientierung bis hin zur Selbstdarstellung gibt es klare Typen.
Lind, G. (2019). MORAL IST LEHRBAR! Wie man moralisch-demokratische Fähigkeiten fördern und damit Gewalt, Betrug und Macht mindern kann. LOGOS Verlag. BERLIN. S. 107-126
Lind zeigt, dass Moralkompetenz erlernbar ist – sie kann gezielt durch spezielle Methoden gefördert werden. Ziel ist eine Gesellschaft, in der Menschen Konflikte durch Nachdenken und Diskussion lösen – statt durch Macht, Betrug oder Gewalt.
Moralkompetenz bedeutet:
- Probleme und Konflikte selbstständig, argumentativ und gewaltfrei zu lösen,
- eigene moralische Überzeugungen in Worte zu fassen,
- andere Meinungen zu akzeptieren und damit umzugehen.
Die KMDD - Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion
Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) ist ein innovatives und wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Förderung der Moralkompetenz von Jugendlichen und Erwachsenen. Entwickelt von Georg Lind, baut sie auf den Erkenntnissen der moralpsychologischen Forschung sowie auf der ursprünglichen Dilemma-Methode von Blatt und Kohlberg auf – geht dabei jedoch bewusst neue Wege.
Im Zentrum der KMDD steht eine semi-reale Dilemmageschichte, in der eine fiktive Person mit einer moralisch schwierigen Entscheidung konfrontiert ist. Diese Geschichte dient als Ausgangspunkt für eine strukturierte Diskussion, in der die Teilnehmenden ihre moralischen Urteile bilden, begründen und gegenseitig hinterfragen. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um das Abwägen konkurrierender moralischer Prinzipien, um Selbstreflexion und um die Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen. Entscheidend ist: Die Teilnehmenden sollen lernen, ihre moralischen Gefühle in Worte zu fassen und in einem respektvollen Diskurs auszudrücken.
Ein besonderes Merkmal der KMDD ist die konsequente Selbststeuerung der Diskussion durch die Teilnehmenden selbst. Die Moderation erfolgt nicht durch die Lehrkraft, sondern mithilfe der sogenannten Pingpong-Regel: Wer spricht, darf einen anderen Redner*in aus der Gegengruppe auswählen, sodass ein dialogischer und gleichberechtigter Austausch entsteht. Die Lehrkraft übernimmt keine lenkende Rolle im Diskussionsverlauf, sondern sorgt lediglich für den Rahmen, die Einhaltung der Regeln und eine störungsfreie Atmosphäre.
Didaktisch stützt sich die KMDD auf mehrere bewährte Lernprinzipien: Sie sorgt für maximale Aufmerksamkeit durch wechselnde Phasen von Unterstützung und Herausforderung, setzt auf aktive Beteiligung statt passiven Konsum und schafft durch die fiktive Geschichte eine sichere Distanz, in der moralische Fragen emotional erlebbar, aber nicht verletzend diskutiert werden können. Die Geschichte muss dabei einfach, knapp und neutral formuliert sein – ohne Bewertungen oder psychologische Deutungen – damit sich alle Teilnehmenden auf Augenhöhe beteiligen können.
Die KMDD verfolgt das Ziel, Teilnehmende in ihrer Fähigkeit zu stärken, moralische Konflikte durch Denken, Argumentation und Diskussion zu lösen – und nicht durch Unterwerfung, Macht oder Gewalt. Sie nimmt die Menschen ernst als vernunftbegabte, moralisch urteilsfähige Wesen. Gleichzeitig schafft sie ein Lernumfeld, das emotionale Sicherheit mit kognitiver Herausforderung kombiniert – eine seltene, aber äußerst wirksame Konstellation.
Empirische Studien belegen die Wirksamkeit der KMDD eindrucksvoll. Schon eine einzelne 90-minütige Sitzung kann zu messbaren Zuwächsen an Moralkompetenz führen. Die Methode ist dabei universell einsetzbar: Sie eignet sich für Kinder ab der dritten Klasse ebenso wie für Jugendliche, Erwachsene oder Senior*innen – unabhängig von Herkunft, Bildung oder Fähigkeit. Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Wirkung der KMDD bei sogenannten „schwierigen Gruppen“, denen man eine sachliche Auseinandersetzung mit moralischen Fragen oft nicht zutraut.
Die Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der KMDD ist jedoch eine fundierte Ausbildung der Lehrpersonen, da die Methode komplex und anspruchsvoll ist. Ohne diese Schulung kann es nicht nur zu einem Ausbleiben der Lernwirkung kommen, sondern unter Umständen sogar zu unerwünschten Effekten – etwa, wenn starke moralische Emotionen im Raum stehen und nicht angemessen begleitet werden.
Letztlich ist die KMDD kein Rollenspiel, kein Debattierwettbewerb und keine Philosophiestunde. Sie ist ein Übungsraum für moralisches Denken, in dem die Teilnehmenden die Erfahrung machen, dass sich auch über schwierige, kontroverse Themen achtsam und konstruktiv diskutieren lässt – ohne persönliche Angriffe und ohne Sieg oder Niederlage. Wer an einer KMDD teilnimmt, verlässt den Raum oft mit dem Gefühl: „Ich habe nachgedacht, zugehört, mich geäußert – und bin anderen Menschen mit Respekt begegnet.“ Das ist gelebte Demokratie im Kleinen – und ein starker Baustein für ein friedliches Zusammenleben im Großen.
Ursprung:
- Weiterentwicklung der Blatt-Kohlberg-Methode, bei der moralische Dilemmata diskutiert werden.
- Lind optimiert sie, weil Kohlbergs Methode zu aufwendig und lehrerzentriert war.
Wichtig zur KMDD
„Die KMDD wurde entwickelt, um die Fähigkeit von (jungen und alten) Menschen zu fördern, Probleme und Konflikte auf der Basis von universellen moralischen Prinzipien durch Denken und Diskussion zu lösen, also das zu fördern, was wir als Moralkompetenz bezeichnen. Diese Fähigkeit stellt eine Schlüsselkompetenz für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft dar“ (Lind, 2015).
Didaktische Leitideen der KMDD
1. Maximale Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft
((a) = Abwechslung von Phasen der Unterstützung (gutes Erklären der Aufgabenstellung und von Theorien, Experimente, Filme, Exkursionen, Gruppenarbeiten, Diskussion mit Gleichgesinnten, Argumente mitschreiben, loben etc.), und Herausforderung (Entscheidungen verstehen und beurteilen, öffentliche Bezugnahme eines Standpunktes, zuhören, abstimmen, eigene Gefühle verständlich machen), (b) = Pingpong-Regel, (c) = Auswahl Dilemmageschichte, (d) = Grundregel: Diskussion über eine Sache (nicht über eine Person)) – Zu beachten ist außerdem eine mittlere Schwierigkeit der Übungsaufgaben und eine Dilemmageschichte einer fiktiven Person
2. Wechselnde Phasen der Unterstützung und Herausforderung
Ermöglicht:
- Herantasten an das optimale Lernvermögen
- Hochhalten des Aufmerksamkeitsniveaus
- Beginn mit stützenden Phasen -> dann Einbauen von herausfordernden Phasen – mehrmaliges Wechseln während der Sitzung
3. Selbststeuerung der Diskussion
- Moderation erfolgt durch die Teilnehmer selbst (keine Autorität greift ein) -> Selbstmoderation durch die Pingpong-Regel
- Meldungen mit Handzeichen – dann wird aufgerufen (andere Gruppe) – dann wird geantwortet
- Lehrperson ruft nur den ersten Redner aus – sonst nur Überwachung der Einhaltung der Regeln
4. Auslösung einer Diskussion durch eine semi-reale Dilemmageschichte
Dilemmageschichten = semi-real -> Dass Dilemma ist realistisch die Figur jedoch fiktiv: Sie muss von einer Person handeln, die vor einer schweren Entscheidung steht - einfache Sprache, so kurz, wie möglich (nicht länger als eine viertel-Seite), keine Wertungen oder Vermutungen, sie muss andeuten, dass die fiktive Person nachdenkt und sie muss mit einer klaren Entscheidung enden – Abstimmung – War die Entscheidung richtig oder falsch? (Wichtig die Dilemmageschichte sollte sich an den Bedürfnissen und Voraussetzungen der Teilnehmenden orientieren)
5. Sachorientierung statt Personenorientierung
- Nicht persönlich – Fokus auf das Dilemma (Widerstreit der beteiligten Moralprinzipien) -> Simmel (1989): „Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten Vorgänge im ethischen Leben“ (S.153). -> Versachlichung des Konflikts (wichtig ist der „moralische Kern“ -> Keine wertenden Bemerkungen zur Person
Merkmale der KMDD:
- 90 Minuten pro Sitzung, mit nur einem Dilemma-Fall.
- Teilnehmer denken zunächst allein, dann in Gruppen, dann im Plenum.
- Diskussion wird nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern selbst moderiert („Ping-Pong-Regel“).
- Ziel ist nicht die „richtige Lösung“, sondern das Trainieren moralischen Denkens.
- Abschließen der Diskussion mit einer Evaluation (was hat gefallen/ nicht gefallen, was wurde gelernt)
Voraussetzungen der Teilnehmenden:
- Keine Einführung/Vorbereitung
- Lehrer: gründliche Ausbildung (KMDD-Trainings- und Zertifizierugslehrgang)
- Gute und durchdachte Vorbereitung (wichtig auch die Präsentation der Geschichte zu üben)
Überprüfung der Wirksamkeit der KMDD
(S. 119–121)
Lind betont, wie essenziell die empirische Evaluation für jede pädagogische Methode ist. Die Wirksamkeit der KMDD wird kontinuierlich überprüft – sowohl durch subjektives Feedback der Teilnehmenden als auch durch objektive Methoden wie den Moralischen Kompetenz-Test (MKT).
Wichtige Aspekte dabei sind:
- Vorher-Nachher-Messungen (Pre-Post-Designs)
- Verwendung einer Kontrollgruppe, wenn Vergleichsdaten fehlen
- Nachhaltigkeit der Effekte durch spätere Erhebungen
Er warnt davor, fehlende Effekte vorschnell als Scheitern zu deuten – mögliche Gründe dafür können sein:
- Ungeeignetes Dilemma für die Zielgruppe
- Unzureichende methodische Umsetzung oder Vorbereitung
- Beobachtungsfehler (z. B. durch ungeschulte Evaluatoren)
Erwartbare Wirkungen & Zielsetzung (S. 121–123)
- Nach Linds Erfahrung bringt eine gut durchgeführte KMDD-Sitzung 3–6 C-Punkte Zuwachs im MKT.
- Bei umfassender Umsetzung in Seminaren: 7–15 C-Punkte möglich.
- Ein realistisches, sinnvolles Ziel ist ein Mindestwert von C = 20, auch wenn der Maximalwert theoretisch bei 100 liegt.
Er betont: Schon dieser „bescheidene“ C-Wert wäre gesellschaftlich hochwirksam, weil Menschen mit dieser Kompetenz Konflikte gewaltfrei und prinzipiengeleitet lösen könnten.
Instrumente zur Selbstevaluation (S. 123–124)
Lind stellt mehrere Evaluationsinstrumente vor:
- Beobachtungsbogen zur Strukturierung der Beobachtung von KMDD-Sitzungen
- Stundenbericht, z. B. für Lehramtsanwärter*innen
- Moralische Atmosphäre-Fragebogen (MAF): misst u. a. Gerechtigkeit, Partizipation und pädagogisches Klima
- Empfehlung, auch Besucher aktiv mit Beobachtungsaufgaben einzubeziehen
Die Just Community-Methode (JC) – Vergleich und Ergänzung (S. 124–126)
Die „Just Community“ geht über die KMDD hinaus und integriert moralisch-demokratisches Lernen in den Schulalltag. Hier werden reale Probleme von echten Personen in der Vollversammlung diskutiert und Entscheidungen verbindlich getroffen.
Zentrale Prinzipien der JC-Methode:
- Authentische Kommunikation & Meinungsbildung
- Argumentativer Diskurs und Verantwortung
- Gelebte Demokratie im Schulalltag
- Balance zwischen individueller Autonomie und Gemeinschaft
Sie basiert auf einer interaktionistischen Anthropologie: Entwicklung geschieht durch aktive Auseinandersetzung mit realen Herausforderungen – nicht durch bloße Instruktion oder Abschottung.
Die Just-Community Methode
Auf Seite 126 beschreibt Lind, wie eine Just Community konkret in der Schule organisiert und aufgebaut werden kann. Im Zentrum steht dabei die sogenannte Vollversammlung, in der sowohl Schülerinnen als auch Lehrkräfte gleichberechtigt mit je einer Stimme abstimmen. Diese Versammlung ist das zentrale Forum demokratischer Aushandlung und wird von einem gewählten Moderatorenteam geleitet – bestehend aus Schülerinnen und Lehrkräften. Ihre Qualität und Wirkung hängt stark von der vorbereitenden Arbeit in den Klassen und von den Vorbereitungssitzungen eines Organisationsteams ab.
In diesen Vorbereitungen werden Themenvorschläge gesammelt, diskutiert und so aufbereitet, dass sie für die Vollversammlung konstruktiv und lösungsorientiert bearbeitbar sind. Die Schüler*innen, die ein Anliegen einbringen möchten, erhalten Zeit und Unterstützung, um ihre Argumente vorzubereiten. Eine besondere Rolle spielt zudem ein Vermittlungsausschuss, der zwischen den Vollversammlungen regelmäßig tagt. Er achtet darauf, dass die dort getroffenen Beschlüsse im Schulalltag tatsächlich umgesetzt werden – vergleichbar mit einer demokratisch legitimierten Exekutive.
Lind betont auch, dass die Lehrerinnen im Hintergrund eine tragende Rolle spielen. Sie schaffen den notwendigen Freiraum und die Rahmenbedingungen, damit die Schülerinnen echte demokratische Erfahrungen machen können. Dieser Freiraum darf nicht zufällig entstehen, sondern muss pädagogisch geplant, begleitet und reflektiert werden. Lehrer*innen sind dabei selbst Lernende, da die Dynamik der Just Community auch sie zu kontinuierlicher Weiterentwicklung herausfordert – etwa durch Supervision, Fortbildung oder wissenschaftliche Begleitung.
Insgesamt verfolgt die Just Community das Ziel, dass Schüler*innen Demokratie nicht nur als System, sondern als gelebte Erfahrung begreifen. Es geht darum, durch echte Mitwirkung moralische Prinzipien wie Gerechtigkeit, gegenseitigen Respekt und Verantwortung im sozialen Miteinander zu verankern. Lind verweist auf die Bildungsdiskussion seiner Zeit, die ebenfalls fordert, Lerninhalte stärker an praktischen Erfahrungen zu orientieren – was die Just Community in idealer Weise leistet. Sie geht davon aus, dass moralisches Denken und Handeln nicht durch Belehrung, sondern durch aktive Auseinandersetzung mit Regeln, Normen und realen Entscheidungen entsteht.
Vergleich beider Methoden ...
Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) und die Just Community-Methode (JC) verfolgen beide das Ziel, moralische und demokratische Kompetenzen zu fördern – tun dies jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Die KMDD konzentriert sich auf die individuelle Förderung der Moralkompetenz durch das strukturierte Nachdenken und Diskutieren moralischer Dilemmata. Dabei stehen sogenannte semi-reale Geschichten im Zentrum: fiktive Situationen, die reale moralische Konflikte widerspiegeln, aber keine konkreten Personen betreffen. Die Teilnehmenden diskutieren diese Fälle in einem geschützten Raum, ohne dass ihre Entscheidungen reale Konsequenzen haben. Die Reflexion über eigene Werte und Argumente sowie das argumentative Auseinandersetzen mit gegenteiligen Meinungen stehen im Mittelpunkt. Die Diskussion wird nicht von der Lehrkraft moderiert, sondern von den Teilnehmenden selbst gesteuert – etwa durch die sogenannte Pingpong-Regel. Die Lehrperson übernimmt eine begleitende, aber zurückhaltende Rolle.
Im Gegensatz dazu richtet sich die Just Community-Methode stärker auf die institutionelle Ebene des schulischen Zusammenlebens. Hier geht es darum, reale Konflikte und konkrete Probleme im Schulalltag gemeinsam zu diskutieren und demokratisch zu lösen. Die Entscheidungen, die etwa in einer Schülervollversammlung getroffen werden, sind verbindlich und betreffen reale Personen. Ziel ist es, Schülerinnen und Schüler aktiv an der Gestaltung ihrer Schule zu beteiligen und dabei ein tiefes Verständnis für Gerechtigkeit, Verantwortung und Mitbestimmung zu entwickeln. Während bei der KMDD die emotionale Beteiligung durch fiktive Distanz kontrolliert wird, sind die Jugendlichen in der JC-Methode oft direkt betroffen – was das Engagement intensiviert, aber auch höhere Anforderungen an Struktur und Moderation stellt.
Die KMDD eignet sich besonders gut für den Einsatz im Fachunterricht, etwa zur thematischen Vertiefung ethischer Fragestellungen, während die JC-Methode strukturell in das Schulleben eingebettet ist und eine längerfristige Verankerung in der Schulkultur verlangt. Beide Methoden basieren auf dem Prinzip der Autonomie und nehmen Jugendliche ernst – als moralisch denkende und handlungsfähige Menschen. Sie sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich ideal: Die KMDD stärkt das individuelle moralische Urteilsvermögen, die JC-Methode fördert die praktische Umsetzung dieser Urteilsfähigkeit im demokratischen Alltag einer Gemeinschaft.
Wesentlich im Hinblick auf die Werteerziehung in der Schule...
Beutelsbacher Konsens
Der Beutelsbacher Konsens wurde 1976 formuliert und legt bis heute die zentralen Leitlinien für die politische Bildung in Deutschland fest. Er besteht aus drei Grundprinzipien:
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Überwältigungsverbot
Lernende dürfen nicht indoktriniert oder zum Übernehmen einer bestimmten Meinung gedrängt werden. Die politische Bildung soll zur eigenständigen Urteilsbildung befähigen.
Wichtig: Dieses Prinzip gilt nicht uneingeschränkt für verfassungsfeindliche oder demokratiegefährdende Positionen. Haltungen, die die Menschenwürde oder zentrale Werte des Grundgesetzes (wie Gleichberechtigung, Schutz von Minderheiten etc.) verletzen – etwa rechtsextreme Positionen oder die Ideologie der AfD –, dürfen und müssen als problematisch bzw. gefährlich eingeordnet werden. Politische Bildung darf hier klar Stellung beziehen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. -
Kontroversitätsgebot
Themen, die in Wissenschaft oder Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, müssen auch im Unterricht plural und differenziert dargestellt werden. Es geht darum, verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen – im Rahmen demokratischer Grundwerte. -
Schülerorientierung
Die politische Bildung soll junge Menschen in die Lage versetzen, ihre eigenen Interessen zu erkennen, politische Prozesse zu verstehen und aktiv an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben.
Der Beutelsbacher Konsens schützt also einerseits vor politischer Beeinflussung, fordert aber andererseits eine klare Haltung gegen antidemokratische Tendenzen – im Sinne des Grundgesetzes und der Menschenrechte.