„Die Bedeutung der Werte-Bildung für die Professionalisierung angehender LehrerInnen“ von Susanne Müller-Using (2013)
1. Grundverständnis von Werte-Bildung und Lehrerrolle
S. 65–67
LehrerInnen agieren in einem komplexen Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen. Ihr pädagogisches Handeln soll auf einer demokratischen Wertgrundlage basieren (z. B. Grundrechte des GG, EU-Grundwerte). Dabei kommt ihnen eine Vorbildfunktion zu. Pädagogik wird als „Erziehungskunst“ verstanden, in der Wissen, Werte und Persönlichkeitsbildung miteinander verschränkt sind.
2. Werte-Bildung in der schulischen Praxis – Beispielanalyse
S. 67–68
Anhand eines Interviewauszugs mit einer Grundschullehrerin wird aufgezeigt, dass sprachliche Unsicherheit und mangelnde Reflexion über Werte weit verbreitet sind. Viele Lehrkräfte können Werte nicht explizit benennen, obwohl sie implizit im Alltag wirksam sind.
3. Werte als Teil professionellen Lehrerhandelns
S. 69–71
Die Kultusministerkonferenz (KMK) betont in ihren Standards (2000 & 2004) die Bedeutung von Wertevermittlung:
-
Lehrkräfte sollen Vorbilder sein
-
Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Empathie und Wertorientierung sind zentrale Anforderungen
-
Kompetenzbereich „Erziehen“ beinhaltet explizit die Fähigkeit zur Wertevermittlung
4. Schulischer Bildungsauftrag & Menschenrechte
S. 71–74
Laut Schulgesetzen (z.B. BayEUG Artikel 1) und internationalen Menschenrechtsabkommen (z. B. Menschenrechtskonvention der UN §26 Absatz 2) soll Bildung zur Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und einem demokratischen Miteinander beitragen.
- LehrerInnen müssen diese Wertziele kennen, reflektieren und im Schulalltag umsetzen.
5. Internationale Vergleiche – Vorbild Finnland
S. 73–74
In Finnland gibt es sogenannte „opportunity to learn standards“, die auch Wertziele systematisch in den Lehrplan integrieren. Eine ähnliche Verbindlichkeit fehlt in Deutschland. Evaluationen könnten auch hierzulande helfen, die Umsetzung wertebezogener Bildungsziele zu überprüfen.
6. LehrerInnenbildung: Anforderungen und Defizite
S. 70, 75–78
In der LehrerInnenbildung fehlt es oft an:
-
verbreiteten, reflektierten Ausbildungskonzepten zur Werte-Bildung
-
systematischer Einbindung pädagogisch-ethischer Reflexion
-
empirischer Forschung zu Werthaltungen, beliefs, soft skills
Das Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert/Kunter) inkludiert Wertehaltung und Überzeugungen zwar implizit, sie werden aber nicht ausreichend ausgebildet.
7. Menschenwürde als Leitprinzip
S. 79–80
Werte-Bildung bedeutet auch: menschenwürdige Bildung. LehrerInnen müssen Würde vorleben, achtsam handeln und sich der Bedeutung ihres pädagogischen Handelns für die SchülerInnen bewusst sein.
Zentrale Frage: Wie kann pädagogisches Handeln zur Stärkung der Menschenwürde beitragen?
8. Schlussfolgerung für die LehrerInnenbildung
S. 80–81
Die Vermittlung von Werten braucht:
-
Interdisziplinäre Konzepte
-
Wissenschaftlich fundierte LehrerInnenbildung
-
Verankerung von pädagogisch-ethischen Standards
➡ Nur wer selbst in Werten gebildet ist, kann orientierungsstiftende Bildung vermitteln.
Multrus, U. (2008). Werteerziehung in der Schule. In Bayern (Hg.). Werte machen stark: Praxishandbuch zur Werteerziehung (1. Aufl., S.22.-37). Brigg Pädagogik.
In seinem Beitrag zur schulischen Werteerziehung stellt Franz-Josef Multrus (2008) fest, dass es bis heute keinen wissenschaftlich einheitlichen Wertebegriff gibt. Vielmehr existieren unterschiedliche Zugänge und Definitionsansätze. Er bezieht sich unter anderem auf Hartmut von Hentig, der betont, dass Werte nicht erfunden oder gesetzt werden können, sondern bereits in der Gesellschaft verankert sind. Aufgabe pädagogischen Handelns sei es, diese erkennbar zu machen und in ihrer Bedeutung für das menschliche Zusammenleben zu verdeutlichen.
Werte versteht Multrus als wünschenswerte Grundhaltungen, die ein erstrebenswertes Ziel charakterisieren und den Menschen Orientierung verleihen, aber noch nicht zu aktuellen und konkreten Verhaltensweisen ausgeprägt sind. Sie sind abstrakter als Normen, dienen aber als deren Grundlage. Eine hilfreiche Metapher dafür ist der „Polarstern“, der Orientierung bietet, ohne selbst das Ziel zu sein. Es lassen sich unterschiedliche Wertekategorien unterscheiden: moralische (z. B. Gerechtigkeit, Treue), religiöse (z. B. Nächstenliebe), politische (z. B. Freiheit, Gleichheit), ästhetische (z. B. Schönheit) sowie materielle Werte (z. B. Wohlstand). Besondere Bedeutung haben sogenannte Grundwerte, die sich etwa im Grundgesetz widerspiegeln und den Menschenrechten entsprechen. Sie gelten als überindividuell und nicht verhandelbar.
Daraus leiten sich Normen (konkrete Verhaltensregeln) und Tugenden (habituelle Handlungsmuster) ab. Multrus unterscheidet Kardinaltugenden wie Gerechtigkeit und Klugheit, die als kontextunabhängig gelten, von Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit oder Fleiß, deren ethische Bewertung vom Zusammenhang abhängt. Die Gesamtheit solcher Regeln bildet die Moral einer Gesellschaft. Sie muss erlernt und durch reflektiertes Handeln internalisiert werden, was eine Filterfunktion gegenüber spontanen Impulsen übernimmt (vgl. Nunner-Winkler).
Modelle und Konzepte der schulischen Werteerziehung
Multrus stellt drei Hauptansätze der schulischen Werteerziehung vor:
1. Materiale Werteerziehung
Dieser Ansatz (z. B. Brezinka) zielt auf die Vermittlung konkreter Wertüberzeugungen, Normen und Tugenden. Die Auswahl dessen, was „richtig“ oder „gut“ ist, obliegt dem Erziehenden. Dies birgt die Gefahr der Indoktrination, da normative Inhalte nicht von den Kindern selbst erschlossen werden, sondern „vorgegeben“ sind.
2. Formale Werteerziehung
Der zweite Zugang (z. B. Kohlberg) fokussiert nicht auf Inhalte, sondern auf die Entwicklung moralischer Urteilskraft. Ziel ist es, Kinder zur reflektierten Bewertung von Werten zu befähigen – also das „Wie“ moralischer Urteile zu fördern (z. B. Begründbarkeit, Widerspruchsfreiheit), nicht das „Was“. Hierbei werden Moral-Dilemmata als Lernanlässe eingesetzt. Der Lehrer tritt nicht bewertend, sondern moderierend auf.
3. Integrativer Ansatz
Multrus betont, dass im schulischen Alltag formale und materiale Ansätze nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das Schulrecht sieht eine Demokratieerziehung vor, die zwar normative Grundlagen vermittelt (z. B. Grundrechte), gleichzeitig aber Reflexionsfähigkeit und Urteilsbildung stärken soll.
Vergleich verschiedener pädagogischer Ansätze (nach Oser/Althof)
Romantischer Ansatz
-
Geht von einem positiven Menschenbild aus (Rousseau): Das Kind ist von Natur aus gut.
-
Werte gelten als individuell und relativ: Was ein Kind gut findet, ist gut.
-
Gefahr: Unzureichende Unterscheidung zwischen moralischer Relevanz und individuellen Vorlieben.
Technokratischer Ansatz
-
Werte und Tugenden werden instruiert, geübt und verstärkt.
-
Das Kind wird als „leeres Gefäß“ betrachtet, das mit bestimmten Werten befüllt werden muss.
-
Gefahr: Indoktrination und fehlende Selbstreflexion.
Entwicklungsfördernder Ansatz
-
Orientiert sich an Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung.
-
Ziel: Förderung der moralischen Urteilskompetenz durch Dilemmata, Diskurs und Partizipation (z. B. in „Just Community“-Programmen).
-
Kritik: Moralisches Urteil führt nicht automatisch zu moralischem Handeln; außerdem braucht Wertebildung emotional bedeutsame Erfahrungen, nicht nur kognitive Reflexion.
Didaktische Konsequenzen & Anforderungen an die Schule
Werteerziehung gelingt dann, wenn sie die gesamte Persönlichkeit anspricht: kognitiv, emotional, sozial und handlungsbezogen. Dazu sind sowohl traditionelle Mittel (z. B. Lob, Tadel, Unterweisung) als auch moderne Methoden (z. B. soziales Engagement, projektbezogenes Lernen) sinnvoll.
Besonders bedeutsam ist das Modelllernen (vgl. Bandura): Lehrkräfte müssen ihre Vorbildfunktion reflektiert wahrnehmen, ihre eigenen Werte kennen und bewusst vermitteln. Auch die Schulkultur und das tägliche Miteinander prägen den moralischen Lernprozess entscheidend. Der Fachunterricht sollte auf wertrelevante Aspekte hinterfragt werden und Möglichkeiten zur Reflexion, Verantwortung und Mitbestimmung bieten.
Multrus betont aber auch realistisch: Die entscheidenden Werteprägungen geschehen oft außerhalb der Schule. Schulen können Werte nicht einfach „beibringen“, aber sie können ein Klima schaffen, in dem Wertebildung möglich wird – durch Zeit, Beziehung, Ernstnahme und klare Orientierung.
Fazit
Werteerziehung ist ein unverzichtbarer Bestandteil schulischer Bildung. Sie muss vielschichtig, reflexiv und verantwortungsvoll gestaltet werden. Dabei braucht es sowohl Inhalte als Orientierung als auch Formen der Auseinandersetzung und Mitgestaltung. Einseitige Modelle (ob romantisch, technokratisch oder ausschließlich kognitiv) greifen zu kurz. Erfolgreiche Werteerziehung ist immer dialogisch, persönlichkeitsfördernd und emotional verankert und stellt hohe Anforderungen an die pädagogische Professionalität.
Regenbogen (2013): Zu Wertediskursen in Erziehung und Gesellschaft
Was sind Werte?
-
Werte haben laut Regenbogen drei Funktionen (S. 16–17):
-
Ideale Lebensmuster (z. B. Glück, Vertrauen)
-
Zukunftsziele (z. B. Erfolg, Reife)
-
Maßstäbe zur Beurteilung (z. B. Gerechtigkeit, Toleranz)
-
-
Werte können emotional erlebt (implizit) oder sprachlich reflektiert (explizit) sein.
-
Wertebildung heißt: Bildung in Werten (durch Sozialisation) + Bildung von Werten (durch Selbstreflexion).
Werte sind Dinge, die uns wichtig sind – wie Gerechtigkeit, Liebe oder Erfolg.
Manche spüren wir einfach (z. B. Glück), andere können wir klar benennen (z. B. Toleranz).
Kinder lernen Werte durch ihr Umfeld – aber auch durch Nachdenken darüber, was ihnen selbst wichtig ist.
Wie verändern sich Werte?
-
Wandel von „Tugenden“ (z. B. Gehorsam, Fleiß) hin zu „Werten“ (z. B. Selbstständigkeit, Autonomie) im 20. Jh. (S. 18–20).
-
Soziologen wie Weber und Parsons:
-
Wertrationales Handeln: aus Überzeugung (z. B. Spende)
-
Zweckrationales Handeln: aus Nutzen (z. B. Geldanlage)
-
-
Gesellschaftliche Werte sind Orientierungsmuster für individuelles Handeln.
Früher ging es um Gehorsam – heute eher um freie Entscheidungen.
Man tut Dinge nicht nur, weil sie nützlich sind, sondern auch, weil man sie für richtig hält.
Werte helfen uns, Entscheidungen zu treffen – selbst wenn sie nicht vorgeschrieben sind.
Wertewandel in der Erziehung
-
EMNID-Studien (1950–1995) zeigen:
-
Rückgang von „Gehorsam und Unterordnung“
-
Anstieg von „Selbstständigkeit und freier Wille“ (S. 21–22)
-
-
Erziehungsziele sollen Selbstverantwortung und Autonomie fördern.
Eltern und Lehrkräfte wünschen sich heute, dass Kinder selbstständig denken und handeln – nicht nur brav folgen.
Werte wie Eigenverantwortung werden in unserer Gesellschaft immer wichtiger.
Theorien der Werteerziehung
Kohlberg (S. 23–24):
-
Stufenmodell moralischer Entwicklung: von konventionell zu postkonventionell
-
Ziel: moralische Urteile jenseits bloßer Normen
Gilligan:
-
Ergänzt Kohlberg durch Ethik der Fürsorge (nicht nur Gerechtigkeit)
Wertklärung (Raths et al.) (S. 24–25):
-
Förderung eigenständiger Werthaltungen durch Gespräche
-
Kritik: Gefahr egozentrischer Orientierung
Kinder und Jugendliche können moralisch reifen – von „Ich mache das, weil man es sagt“ zu „Ich tue das, weil ich davon überzeugt bin“.
Manche Theorien betonen Gerechtigkeit, andere Fürsorge.
Ein gutes Werterziehungskonzept hilft Kindern, ihre eigenen Werte zu finden – und auch zu vertreten.
Emotionale Werte & implizite Werthaltungen
-
Emotionale Werte (z. B. Glück, Liebe, Vertrauen) sind oft tief verankert und schwer zu fassen (S. 26–27).
-
Diese können Grundlage für spätere bewusste Wertebildung sein.
Nicht alles, was uns wichtig ist, können wir sofort benennen.
Gefühle wie Vertrauen oder Liebe prägen unser Verhalten oft, lange bevor wir sie bewusst verstehen.
Diese Gefühle sind ein wichtiger Teil der Wertebildung.
Wertebildung in Schule & Gesellschaft
-
Gesellschaft braucht gemeinsame Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz, Freiheit, Verantwortung (S. 27).
-
Schule hat den Auftrag, Wertebildung zu ermöglichen – durch Diskurse, Gespräche, Erfahrungen.
-
Voraussetzung: ein Klima der Offenheit, Toleranz und Akzeptanz.
Damit eine Gesellschaft funktioniert, braucht sie gemeinsame Werte.
In der Schule sollen Kinder lernen, sich eine eigene Meinung zu bilden – und andere Meinungen zu respektieren.
Dafür brauchen sie ein Umfeld, in dem offen diskutiert und nachgedacht werden darf.
Wertebildung- Kinder entwickeln eigene Werte durch Erziehung & Nachdenken
Wertrationalität - Handeln aus Überzeugung, nicht nur aus Nutzen
Postkonventionell - Eigenes moralisches Urteil, jenseits von Regeln
Wertklärung - Pädagogisches Gespräch über persönliche Werte
Tugend - Früher: Pflicht & Disziplin; heute durch Werte ergänzt
Wertewandel - Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen über Zeit
Lohaus & Vierhaus (2019). Moral. In Lohaus, A. & Vierhaus, M. Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor (4. Aufl., S. 259-276). Springer-Lehrbuch. Springer Berlin Heidelberg; Imprint: Springer.
1. Moralische Kognitionen
1.1 Piagets Ansatz zur Moralentwicklung
Piaget sieht die Entwicklung der Moral als Ergebnis kognitiver Reifung und der sozialen Interaktion mit Gleichaltrigen. Er unterscheidet zwei Stadien:
-
Heteronome Moral:
Kinder betrachten Regeln als unveränderbar und ordnen sich Autoritäten unter. Sie bewerten Handlungen nach dem entstandenen Schaden, nicht nach der dahinterstehenden Absicht. -
Autonome Moral:
In der Interaktion mit Gleichaltrigen lernen Kinder, dass Regeln verhandelbar sind. Sie gewichten die Absicht hinter einer Handlung stärker als deren objektive Konsequenz.
Kritik an Piaget:
-
Die Rolle Gleichaltriger wird möglicherweise überschätzt.
-
Die moralische Urteilskraft jüngerer Kinder wird tendenziell unterschätzt, da verbale Tests die Absichtserkennung erschweren.
-
Neuere Studien mit realitätsnäheren Methoden (z. B. Videoanalysen) zeigen differenziertere Fähigkeiten auch bei Jüngeren.
1.2 Kohlbergs Stufenmodell (1969)
Kohlberg erweitert Piaget: Moral entwickelt sich lebenslang und durchläuft drei Hauptniveaus mit jeweils zwei Stufen – orientiert an der Fähigkeit zur Perspektivübernahme und Begründung moralischer Urteile.
-
Präkonventionell (Kindliches Gehorsam → Eigennutz)
-
Konventionell (Gruppen-/Systemloyalität)
-
Postkonventionell (universelle ethische Prinzipien)
Entscheidend ist nicht die Handlung selbst, sondern die Begründung für sie.
Kritik an Kohlberg:
-
Annahme starrer Stufenabfolge wird durch Studien in Frage gestellt.
-
Kulturelle Unterschiede werden unterschätzt: In nicht-westlichen Kulturen spielt Fürsorge oft eine größere Rolle als abstrakte Gerechtigkeit.
-
Spätere Modifikationen:
-
Stufe 6 (universelle Prinzipien) wird gestrichen.
-
Stufe 4,5 (Übergangsstufe) eingeführt.
-
1.3 Alternative Ansätze Carol Gilligan (1982): Ethik der Fürsorge
Gilligan kritisiert Kohlbergs Modell als männlich geprägt. Frauen orientieren sich eher an Beziehungen, Fürsorge und Verantwortung, nicht nur an abstrakter Gerechtigkeit.
Sie entwickelt drei moralische Stufen:
-
Orientierung an Selbstschutz
-
Übernahme sozialer Rollen und Werte
-
Moral der Gewaltlosigkeit (verantwortungsvoller Umgang mit sich und anderen)
Empirische Studien zeigen jedoch keine stabilen Geschlechtsunterschiede; Unterschiede lassen sich eher durch Kontext und Bildung erklären.
Elliot Turiel (1998): Drei-Arten-Modell moralischer Urteile
Turiel unterscheidet:
-
Moralische Urteile: Rechte, Fairness, Wohlergehen
-
Sozial-konventionelle Urteile: kulturell bedingte Normen (z. B. Höflichkeit)
-
Persönliche Urteile: individuelle Vorlieben
Bereits Kindergartenkinder können moralische Verstöße (z. B. Schlagen) unabhängig von Verboten erkennen.
→ Moralisches Wissen entsteht früher als von Piaget/Kohlberg angenommen, und ist nicht vollständig von Autoritäten abhängig.
2. Moralische Emotionen
2.1 Affektive Theorien vor der „kognitiven Wende“ Freud (psychoanalytisch)
Moral entsteht durch Verinnerlichung elterlicher Normen (Über-Ich).
→ Normverstöße lösen Schuld, Angst, Scham aus – selbst ohne äußere Sanktion.
Lerntheoretische Ansätze
Moralisches Verhalten wird durch Verstärkung, Bestrafung und Modelllernen erworben.
→ Emotionen wie Schuld oder Angst werden konditioniert, nicht aus Einsicht geboren.
Beide Theorien sehen Emotionen nicht als aktive moralische Motivation, sondern als Kontrollinstanzen.
→ Kinder gelten eher als reaktiv, nicht als moralisch autonom handelnde Subjekte.
3. Gesamteinschätzung
Die Forschung zeigt heute:
-
Kinder besitzen früher moralische Kompetenzen als lange angenommen.
-
Kognitive und emotionale Prozesse sind eng miteinander verflochten.
-
Kontext und kulturelle Einflüsse sind zentral für moralische Entscheidungen.
-
Ein differenziertes, flexibles Modell moralischer Entwicklung ist hilfreicher als starre Stufenmodelle.
Fazit
Die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit ist ein komplexes Zusammenspiel aus kognitiven Reifungsprozessen, sozialen Erfahrungen und emotionaler Beteiligung. Während Piaget und Kohlberg wichtige Grundlagen legten, zeigen neuere Modelle wie die von Gilligan und Turiel, dass Moral vielschichtiger, früher und kontextabhängiger entsteht, als traditionelle Theorien nahelegten. Insbesondere emotionale Erfahrungen, Beziehungskontexte und kulturelle Normen spielen eine wesentliche Rolle in der Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Albert, M., Leven, I., de Moll., Quenzel, G., Rysina, A., Schneekloth, U., Wolfert, V. (2024). Jugend 2024: Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt. Shell-Jugendstudie. Beltz. S. 13-32.
Was ist die Shell Jugendstudie?
Die Shell Jugendstudie ist eine seit 1953 regelmäßig durchgeführte sozialwissenschaftliche Langzeituntersuchung über die Lebenswelt, Einstellungen und Werteorientierungen von Jugendlichen (12 bis 25 jährige) in Deutschland.
Zentrale Themenfelder:
-
Politisches Interesse & Engagement
-
Wertorientierungen & Lebensziele
-
Ängste & Zukunftsperspektiven
-
Mediennutzung & Digitalisierung
-
Soziale Herkunft, Bildung & Beruf
-
Gesellschaftliche Teilhabe, Demokratie & Vertrauen
-
Haltungen zu Klima, Migration, Gender, Religion
Dabei geht es sowohl um individuelle Lebensrealitäten als auch um das Verhältnis der Jugend zur Gesellschaft, Politik und Staat.
Wie wird untersucht?
Die Studie kombiniert quantitative und qualitative Methoden:
1. Quantitativer Teil (Hauptbasis):
-
Stichprobe:
-
2.509 Jugendliche (12–25 Jahre)
-
Repräsentativ für Deutschland nach Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft etc.
-
-
Instrument:
-
Standardisierter Fragebogen mit geschlossenen und halboffenen Fragen
-
-
Durchführung:
-
Persönliche Interviews (face-to-face) von Januar bis März 2024
-
2. Qualitativer Teil:
-
20 leitfadengestützte Tiefeninterviews à ca. 2 Stunden
-
Fokus auf Lebensziele, Hindernisse, Perspektiven und subjektive Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen
Ergebnisse
1. Politisches Interesse & Engagement
-
55 % der Jugendlichen bezeichnen sich als politisch interessiert (2002: 34 %)
-
51 % informieren sich aktiv über Politik (2019: 36 %)
-
37 % sind bereit, sich politisch zu engagieren (2002: 22 %)
-
Zunahme an Polarisierung:
-
25 % der männlichen Jugendlichen verorten sich als eher rechts oder rechts (2019: <20 %)
-
Bei jungen Frauen nimmt das linke Spektrum zu (51 % sehen sich als links/links der Mitte)
-
-
Politisch interessierte Jugendliche nutzen im Schnitt mehr als 3 verschiedene Informationskanäle
-
Jugendliche positionieren sich heute bewusster politisch als noch vor einigen Jahren
2. Wertorientierungen & Lebensziele
-
Höchste Priorität: Familie, Freundschaft, stabile Beziehungen (über 90 %)
-
Klassische Tugenden wie Fleiß (82 %), Ehrgeiz und Gesetzestreue (88 %) haben weiterhin hohen Stellenwert
-
Sicherheit gewinnt an Bedeutung (2019: 77 %, 2024: 87 %)
-
Toleranz & Respekt vor Vielfalt: 83 %
-
Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Umweltbewusstsein werden geschätzt (aber Umweltbewusstsein leicht rückläufig)
-
Materialistische Werte (hoher Lebensstandard, Karriere, Einfluss) nehmen zu
-
Besonders bei jungen Männern (Machtstreben: ♂ 43 %, ♀ 32 %)
-
-
Tradition & Konformität bleiben für einen Teil identitätsstiftend (jeweils 24 % Zustimmung)
3. Ängste & Zukunftsperspektiven
-
Größte Ängste:
-
Krieg in Europa (81 %)
-
Wirtschaftliche Unsicherheit & Armut (67 %)
-
Gesellschaftliche Feindseligkeit (64 %)
-
Ausländerfeindlichkeit (58 %)
-
-
Zukunftsperspektiven:
-
56 % blicken zuversichtlich auf die gesellschaftliche Zukunft (Höchstwert seit 2002)
-
Aber: Nur 52 % sind zuversichtlich für ihre persönliche Zukunft (2019: 59 %)
-
-
Optimismus der Unterschicht steigt, während er bei Jugendlichen aus der oberen Schicht sinkt
-
Corona-Folgen: 55 % spüren keine Langzeitfolgen, aber viele nennen Freundschaftsverluste, Unsicherheit, Einsamkeit
4. Mediennutzung & Digitalisierung
-
95 % nutzen täglich Messenger, 82 % Social Media
-
45 % informieren sich über Politik primär über Online-Medien
-
Klassische Medien (ARD, ZDF, große Zeitungen) genießen weiter hohes Vertrauen (80 %+), aber:
-
Online-Kanäle (YouTube, TikTok, Insta etc.) holen auf – Vertrauen gestiegen
-
-
90 % fordern verpflichtenden Schulunterricht zu Fake News & Medienkompetenz
-
60 % wünschen sich Unterricht zu Künstlicher Intelligenz
-
KI wird ambivalent bewertet:
-
Chancen (Alltagserleichterung: 69 %), aber auch Risiken (fehlende Menschlichkeit: 65 %, Arbeitsplatzverlust: 45 %)
-
5. Soziale Herkunft, Bildung & Beruf
-
48 % besuchen Gymnasium (2002: 41 %), nur noch 5 % Hauptschule (2002: 21 %)
-
Bildung hängt stark von Herkunft ab:
-
Abiturziel bei Eltern mit einfachem Schulabschluss: 27 %
-
Bei Eltern mit Abitur: 80 %
-
-
Bildungsabbrüche:
-
47 % der Jugendlichen aus unterer Schicht, obere Schicht: nur 10 %
-
-
Bildungsmobilität:
-
28 % Bildungsaufstieg, 13 % -abstieg, 59 % -stabil (oft auf hohem Niveau)
-
-
Berufserwartungen:
-
Wichtig: Sicherheit (91 %), hohes Einkommen (83 %), Aufstiegschancen (80 %)
-
Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf & Familie, v. a. bei Frauen
-
Männer zunehmend offen für Teilzeitmodelle
-
-
Berufliche Erwartungstypen: "Bodenständige", "Idealisten", "Durchstarter", "Distanzierte"
6. Gesellschaftliche Teilhabe, Demokratie & Vertrauen
-
Positive Haltung zum Staat:
-
76 %: Deutschland bietet gute Möglichkeiten
-
71 %: Gemeinsam lässt sich eine lebenswerte Zukunft gestalten
-
-
Aber auch:
-
55 % glauben, staatliche Maßnahmen brächten ihnen persönlich nichts
-
48 % finden: Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um Bedürftige im Inland
-
-
Demokratiezufriedenheit:
-
West: 77 %, Ost: 60 % (Rückgang)
-
-
Vertrauen in Institutionen stabil hoch:
-
Höchstes Vertrauen: Verfassungsgericht, Polizei, Bundeswehr
-
Geringes Vertrauen: Parteien (2.6/5), Kirchen (2.4/5)
-
-
81 % lehnen Extremismus ab, aber:
-
18 % denken, manche Konflikte müssten mit Gewalt ausgetragen werden
-
-
56 % fehlt Vertrauen in Einsicht der Mitmenschen
7. Haltungen zu Klima, Migration, Gender, Religion
Klima & Umwelt:
-
63 % Angst vor Klimawandel, 64 % vor Umweltverschmutzung (2019: mehr)
-
57 % befürworten Einschränkungen des Lebensstandards zugunsten von Klima & Umwelt
-
Bildungsunterschiede:
-
Zustimmung bei Abiturienten: 63 %, bei Hauptschulabschluss: 42 %
-
-
Kritik an Klimaaktivismus (Letzte Generation): 56 % lehnen deren Aktionen ab
Migration & Herkunft:
-
Flüchtlingsaufnahme: 57 % befürworten sie
-
Populistische Haltung verbreitet: 48 % denken, Staat kümmere sich zu sehr um Geflüchtete
-
Vorbehalte gegen syrische Flüchtlinge (18 %) > Ukraine-Flüchtlinge (12 %)
-
Junge Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich öfter benachteiligt
Gender & Gleichstellung:
-
Feminismus wichtig für 59 % der Frauen, 20 % der Männer
-
Gendern:
-
42 % lehnen es ab, 22 % sind dafür, 35 % ist es egal
-
Zustimmung deutlich höher bei LGBTQ+-Jugendlichen
-
-
Gender-Typische Werte:
-
Frauen: Vielfalt, Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung
-
Männer: Männlichkeit, Autos, Wettbewerb, Markenkleidung
-
Religion:
-
Rückgang des Gottesglaubens (v. a. bei katholischen Jugendlichen: 2002: 51 %, 2024: 38 %)
-
Muslimische Jugendliche: Höheres und stabileres Glaubensniveau (72–79 %)
-
Religiöse Praxis nimmt ab, v. a. Beten bei christlichen Jugendlichen
SINUS-Jugendstudie 2024 – „Wie ticken Jugendliche?“ (Bundeszentrale für politische Bildung)
SINUS-Jugendstudie 2024
Die SINUS-Jugendstudie untersucht regelmäßig die Werte, Lebenswelten und Alltagsorientierungen von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Sie basiert auf dem sozialwissenschaftlichen Konzept der Sinus-Milieus, das Jugendliche anhand von sozialer Lage (v. a. Bildung) und Grundorientierungen typisiert.
Zentrale Ergebnisse
1. Universelle Werte (teilen fast alle Jugendlichen)
Diese Werte gelten milieuunabhängig als grundlegend:
Soziale Geborgenheit & Beziehungen
- Familie, Freundschaften, Ehrlichkeit, Vertrauen und Treue gelten als zentrale Lebensanker
- Emotionale Stabilität und Zugehörigkeit sind essenziell
Bodenständigkeit & materielle Sicherheit
- Finanzielle Unabhängigkeit ist ein weit verbreitetes Lebensziel
- „Genug Geld verdienen“ wird mit Lebenssicherheit gleichgesetzt
- Reichtum/Luxus eher bei konsumorientierten Jugendlichen wichtig
Altruismus, Toleranz & Gerechtigkeit
- Ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, auch ohne eigene Betroffenheit
- Ablehnung diskriminierender Einstellungen (z. B. Rassismus, Sexismus)
- Empathie und Diversität werden geschätzt
Leistung & Selbstbestimmung
- Leistung gilt als Voraussetzung für Wohlstand und Erfolg
- Motivation oft extrinsisch (z. B. Erwartungen der Eltern)
- Wunsch nach mehr Autonomie und Selbstverwirklichung
Gesundheit & Lifestyle
- Körperliches & mentales Wohlbefinden gewinnen an Bedeutung (u. a. pandemiebedingt)
- Etablierung eines gesunden Lebensstils als Wert
2. Drei Werterichtungen (normative Grundorientierungen)
Diese unterscheiden sich je nach sozialem Hintergrund und Bildung:
A) Absicherung
- Leitsätze: „Sicherheit zuerst“, „Was immer war, soll so bleiben“
- Werte: Tradition, Ordnung, Konformität, Religion, Pflichtbewusstsein
- Ziel: Stabilität, Orientierung an bewährten Strukturen
- Häufig bei: Jugendlichen mit geringer/mittlerer Bildung und/oder Migrationshintergrund
B) Bestätigung & Benefits
- Leitsätze: „Mitten drin statt außen vor“, „Erfolg durch Anpassung“
- Werte: Bildung, Konsum, Work-Life-Balance, Gerechtigkeit, Status
- Zwei Ausprägungen:
- Materialistisch: Aufstieg durch Konsum, Marken, Statussymbole
- Postmaterialistisch: Aufstieg durch Bildung, Sinn, Engagement
- Bildung: Von Pflicht (bildungsfern) bis Selbstentfaltung (bildungsnah)
- Nachhaltigkeit: Formal unterstützt, echtes Engagement v. a. in bildungsnahen Gruppen
C) Charisma
- Leitsätze: „No risk, no fun“, „Nicht viele sein – Vielheiten leben“
- Werte: Kreativität, Stilfreiheit, Selbstverwirklichung, Individualität
- Ziel: Intensives, freies Leben, ästhetischer Ausdruck
- Stark bei: bildungsnahen, weltoffenen Jugendlichen
Sieben jugendliche Lebenswelten (SINUS-Typen 2024)
Die Studie unterscheidet sieben typische Lebenswelten entlang der Achsen Bildungsniveau (vertikal) und Werterichtung (horizontal):
Lebenswelt - Merkmale
1. Traditionell-Bürgerliche
Wertkonservativ, familiär, pflichtbewusst, sicherheitsorientiert
2. Adaptive
Leistungsbereit, pragmatisch, vereinbarkeitsorientiert (Beruf, Familie)
3. Prekäre
Soziale Benachteiligung, Anerkennungswunsch, Wunsch nach Teilhabe
4. Konsum-Materialisten
Freizeit-/konsumorientiert, Statusdenken, Zugehörigkeit durch Marken
5. Experimentalisten
Spaßorientiert, nonkonform, stilbewusst, impulsiv, „Leben im Jetzt“
6. Neo-Ökologische
Nachhaltig, gerechtigkeitsorientiert, intellektuell, gebildet, engagiert
7. Expeditive
Erfolgsorientiert, dynamisch, digital, weltoffen, auf Selbstverwirklichung aus
➡ Alle Lebenswelten teilen universelle Werte, differenzieren sich aber in Zusatzakzentuierungen.
Bedeutung für Schule & Bildung
- Jugendliche ticken unterschiedlich – Schule muss Lebenswelten-sensibel agieren
- Leistungsmotivation ist vorhanden, aber nicht bei allen gleich begründet
- Soziale Gerechtigkeit & Selbstverwirklichung als verbindende Potenziale
- Schulische Angebote sollten Individualität, Kreativität und Partizipation ermöglichen
- Erziehung zur Toleranz und kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Werten notwendig
Die sieben Lebenswelten der Jugendlichen (SINUS-Jugendstudie 2024)
1. Traditionell-Bürgerliche Lebenswelt
-
Kernwerte: Ordnung, Pflichtbewusstsein, Familiensinn, Bescheidenheit
-
Orientierung: an traditionellen Rollenbildern und klaren Lebensplänen
-
Typische Haltung: „Man sollte sich anpassen, nicht auffallen.“
-
Ziel: Sicherheit, ein geregeltes Leben mit Beruf, Familie und Eigenheim
-
Schulische Haltung: oft strebsam und regelkonform, Autorität wird akzeptiert
-
Herkunft: häufig aus kleineren Städten oder ländlichem Raum
2. Adaptive Lebenswelt
-
Kernwerte: Leistung, Verantwortung, Flexibilität, Vereinbarkeit von Familie und Beruf
-
Orientierung: pragmatisch, zielstrebig, stark am „bürgerlichen Mainstream“ ausgerichtet
-
Typische Haltung: „Man muss seinen Weg machen – aber auch genießen können.“
-
Ziel: gutes Leben mit Beruf, Familie und Freizeit – alles „unter einen Hut bringen“
-
Schulische Haltung: zielorientiert, leistungsbereit, anpassungsfähig
-
Soziale Lage: eher mittlere bis gehobene Bildungshintergründe
3. Prekäre Lebenswelt
-
Kernwerte: Teilhabe, Anerkennung, Überleben im Alltag, Gemeinschaft
-
Orientierung: durch schwierige soziale Rahmenbedingungen oft herausgefordert
-
Typische Haltung: „Ich will dazugehören – aber man lässt mich oft nicht.“
-
Ziel: ein sicheres, geregeltes Leben trotz schwieriger Startbedingungen
-
Schulische Haltung: häufig Probleme im Bildungssystem; geringere Bildungsaspirationen
-
Merkmale: häufig Migrationshintergrund, instabile Lebenslagen, ökonomische Unsicherheit
4. Konsum-Materialistische Lebenswelt
-
Kernwerte: Markenbewusstsein, Gruppenzugehörigkeit, Lifestyle, Spaß
-
Orientierung: an Konsum, Mode, Social Media, äußerem Erfolg
-
Typische Haltung: „Wer sich was leisten kann, gehört dazu.“
-
Ziel: gesellschaftliche Anerkennung über Konsum und Lifestyle-Symbole
-
Schulische Haltung: Leistungsmotivation eher extrinsisch; Schule als Mittel zum Zweck
-
Soziale Lage: meist mittlere oder untere Bildungshintergründe
5. Experimentalistische Lebenswelt
-
Kernwerte: Freiheit, Spaß, Stilfreiheit, Nonkonformismus, Erlebnis
-
Orientierung: Gegen den Mainstream, impulsiv, kreativ, oft hedonistisch
-
Typische Haltung: „Ich will leben, ausprobieren und meinen eigenen Weg gehen.“
-
Ziel: intensive Lebenserfahrungen, Selbstverwirklichung, Stilvielfalt
-
Schulische Haltung: eher gleichgültig bis kritisch; Interesse oft nur an kreativen Fächern
-
Merkmale: hohe Individualität, oft unklarer Berufsweg, stilistische Vielfalt
6. Neo-Ökologische Lebenswelt
-
Kernwerte: Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Bildung, Gleichberechtigung, Sinnorientierung
-
Orientierung: an postmateriellen Werten, globalem Denken, gesellschaftlicher Verantwortung
-
Typische Haltung: „Wir müssen die Welt retten – jeder Schritt zählt.“
-
Ziel: Bildungs- und gesellschaftliches Engagement, Beitrag zu einer besseren Zukunft
-
Schulische Haltung: sehr leistungsorientiert, stark intrinsisch motiviert
-
Soziale Lage: häufig bildungsnahe und akademisch geprägte Elternhäuser
7. Expeditive Lebenswelt
-
Kernwerte: Selbstverwirklichung, Erfolg, Innovation, Networking, Internationalität
-
Orientierung: an Mobilität, Flexibilität, Technologie und Selbstoptimierung
-
Typische Haltung: „Ich will Erfolg – aber nach meinen Regeln.“
-
Ziel: dynamische Lebensgestaltung, Karriere, Erfahrungen sammeln
-
Schulische Haltung: leistungsorientiert, eigenständig, technikaffin
-
Merkmale: sehr bildungsstark, oft aus urbanem Milieu, kosmopolitisch eingestellt
Wichtige Hinweise zur Interpretation:
-
Kein Jugendlicher entspricht exakt einem Typus. Die Lebenswelten sind Idealtypen – sie helfen, Muster zu erkennen, keine Individuen zu kategorisieren.
-
Alle Jugendlichen teilen gewisse Grundwerte (z. B. Bedeutung von Familie, Freundschaft, Ehrlichkeit, Selbstbestimmung).
-
Soziale Herkunft, Bildung, kulturelle Prägung und digitale Lebenswelten haben großen Einfluss auf die Zugehörigkeit zu einer Lebenswelt.
Lind, G. (2019). MORAL IST LEHRBAR! Wie man moralisch-demokratische Fähigkeiten fördern und damit Gewalt, Betrug und Macht mindern kann. LOGOS Verlag. BERLIN. S. 107-126
Lind zeigt, dass Moralkompetenz erlernbar ist – sie kann gezielt durch spezielle Methoden gefördert werden. Ziel ist eine Gesellschaft, in der Menschen Konflikte durch Nachdenken und Diskussion lösen – statt durch Macht, Betrug oder Gewalt.
Moralkompetenz bedeutet:
- Probleme und Konflikte selbstständig, argumentativ und gewaltfrei zu lösen,
- eigene moralische Überzeugungen in Worte zu fassen,
- andere Meinungen zu akzeptieren und damit umzugehen.
Die KMDD - Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion
Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) ist ein innovatives und wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Förderung der Moralkompetenz von Jugendlichen und Erwachsenen. Entwickelt von Georg Lind, baut sie auf den Erkenntnissen der moralpsychologischen Forschung sowie auf der ursprünglichen Dilemma-Methode von Blatt und Kohlberg auf – geht dabei jedoch bewusst neue Wege.
Im Zentrum der KMDD steht eine semi-reale Dilemmageschichte, in der eine fiktive Person mit einer moralisch schwierigen Entscheidung konfrontiert ist. Diese Geschichte dient als Ausgangspunkt für eine strukturierte Diskussion, in der die Teilnehmenden ihre moralischen Urteile bilden, begründen und gegenseitig hinterfragen. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um das Abwägen konkurrierender moralischer Prinzipien, um Selbstreflexion und um die Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen. Entscheidend ist: Die Teilnehmenden sollen lernen, ihre moralischen Gefühle in Worte zu fassen und in einem respektvollen Diskurs auszudrücken.
Ein besonderes Merkmal der KMDD ist die konsequente Selbststeuerung der Diskussion durch die Teilnehmenden selbst. Die Moderation erfolgt nicht durch die Lehrkraft, sondern mithilfe der sogenannten Pingpong-Regel: Wer spricht, darf einen anderen Redner*in aus der Gegengruppe auswählen, sodass ein dialogischer und gleichberechtigter Austausch entsteht. Die Lehrkraft übernimmt keine lenkende Rolle im Diskussionsverlauf, sondern sorgt lediglich für den Rahmen, die Einhaltung der Regeln und eine störungsfreie Atmosphäre.
Didaktisch stützt sich die KMDD auf mehrere bewährte Lernprinzipien: Sie sorgt für maximale Aufmerksamkeit durch wechselnde Phasen von Unterstützung und Herausforderung, setzt auf aktive Beteiligung statt passiven Konsum und schafft durch die fiktive Geschichte eine sichere Distanz, in der moralische Fragen emotional erlebbar, aber nicht verletzend diskutiert werden können. Die Geschichte muss dabei einfach, knapp und neutral formuliert sein – ohne Bewertungen oder psychologische Deutungen – damit sich alle Teilnehmenden auf Augenhöhe beteiligen können.
Die KMDD verfolgt das Ziel, Teilnehmende in ihrer Fähigkeit zu stärken, moralische Konflikte durch Denken, Argumentation und Diskussion zu lösen – und nicht durch Unterwerfung, Macht oder Gewalt. Sie nimmt die Menschen ernst als vernunftbegabte, moralisch urteilsfähige Wesen. Gleichzeitig schafft sie ein Lernumfeld, das emotionale Sicherheit mit kognitiver Herausforderung kombiniert – eine seltene, aber äußerst wirksame Konstellation.
Empirische Studien belegen die Wirksamkeit der KMDD eindrucksvoll. Schon eine einzelne 90-minütige Sitzung kann zu messbaren Zuwächsen an Moralkompetenz führen. Die Methode ist dabei universell einsetzbar: Sie eignet sich für Kinder ab der dritten Klasse ebenso wie für Jugendliche, Erwachsene oder Senior*innen – unabhängig von Herkunft, Bildung oder Fähigkeit. Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Wirkung der KMDD bei sogenannten „schwierigen Gruppen“, denen man eine sachliche Auseinandersetzung mit moralischen Fragen oft nicht zutraut.
Die Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der KMDD ist jedoch eine fundierte Ausbildung der Lehrpersonen, da die Methode komplex und anspruchsvoll ist. Ohne diese Schulung kann es nicht nur zu einem Ausbleiben der Lernwirkung kommen, sondern unter Umständen sogar zu unerwünschten Effekten – etwa, wenn starke moralische Emotionen im Raum stehen und nicht angemessen begleitet werden.
Letztlich ist die KMDD kein Rollenspiel, kein Debattierwettbewerb und keine Philosophiestunde. Sie ist ein Übungsraum für moralisches Denken, in dem die Teilnehmenden die Erfahrung machen, dass sich auch über schwierige, kontroverse Themen achtsam und konstruktiv diskutieren lässt – ohne persönliche Angriffe und ohne Sieg oder Niederlage. Wer an einer KMDD teilnimmt, verlässt den Raum oft mit dem Gefühl: „Ich habe nachgedacht, zugehört, mich geäußert – und bin anderen Menschen mit Respekt begegnet.“ Das ist gelebte Demokratie im Kleinen – und ein starker Baustein für ein friedliches Zusammenleben im Großen.
Ursprung:
- Weiterentwicklung der Blatt-Kohlberg-Methode, bei der moralische Dilemmata diskutiert werden.
- Lind optimiert sie, weil Kohlbergs Methode zu aufwendig und lehrerzentriert war.
Wichtig zur KMDD
„Die KMDD wurde entwickelt, um die Fähigkeit von (jungen und alten) Menschen zu fördern, Probleme und Konflikte auf der Basis von universellen moralischen Prinzipien durch Denken und Diskussion zu lösen, also das zu fördern, was wir als Moralkompetenz bezeichnen. Diese Fähigkeit stellt eine Schlüsselkompetenz für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft dar“ (Lind, 2015).
Didaktische Leitideen der KMDD
1. Maximale Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft
((a) = Abwechslung von Phasen der Unterstützung (gutes Erklären der Aufgabenstellung und von Theorien, Experimente, Filme, Exkursionen, Gruppenarbeiten, Diskussion mit Gleichgesinnten, Argumente mitschreiben, loben etc.), und Herausforderung (Entscheidungen verstehen und beurteilen, öffentliche Bezugnahme eines Standpunktes, zuhören, abstimmen, eigene Gefühle verständlich machen), (b) = Pingpong-Regel, (c) = Auswahl Dilemmageschichte, (d) = Grundregel: Diskussion über eine Sache (nicht über eine Person)) – Zu beachten ist außerdem eine mittlere Schwierigkeit der Übungsaufgaben und eine Dilemmageschichte einer fiktiven Person
2. Wechselnde Phasen der Unterstützung und Herausforderung
Ermöglicht:
- Herantasten an das optimale Lernvermögen
- Hochhalten des Aufmerksamkeitsniveaus
- Beginn mit stützenden Phasen -> dann Einbauen von herausfordernden Phasen – mehrmaliges Wechseln während der Sitzung
3. Selbststeuerung der Diskussion
- Moderation erfolgt durch die Teilnehmer selbst (keine Autorität greift ein) -> Selbstmoderation durch die Pingpong-Regel
- Meldungen mit Handzeichen – dann wird aufgerufen (andere Gruppe) – dann wird geantwortet
- Lehrperson ruft nur den ersten Redner aus – sonst nur Überwachung der Einhaltung der Regeln
4. Auslösung einer Diskussion durch eine semi-reale Dilemmageschichte
Dilemmageschichten = semi-real -> Dass Dilemma ist realistisch die Figur jedoch fiktiv: Sie muss von einer Person handeln, die vor einer schweren Entscheidung steht - einfache Sprache, so kurz, wie möglich (nicht länger als eine viertel-Seite), keine Wertungen oder Vermutungen, sie muss andeuten, dass die fiktive Person nachdenkt und sie muss mit einer klaren Entscheidung enden – Abstimmung – War die Entscheidung richtig oder falsch? (Wichtig die Dilemmageschichte sollte sich an den Bedürfnissen und Voraussetzungen der Teilnehmenden orientieren)
5. Sachorientierung statt Personenorientierung
- Nicht persönlich – Fokus auf das Dilemma (Widerstreit der beteiligten Moralprinzipien) -> Simmel (1989): „Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten Vorgänge im ethischen Leben“ (S.153). -> Versachlichung des Konflikts (wichtig ist der „moralische Kern“ -> Keine wertenden Bemerkungen zur Person
Merkmale der KMDD:
- 90 Minuten pro Sitzung, mit nur einem Dilemma-Fall.
- Teilnehmer denken zunächst allein, dann in Gruppen, dann im Plenum.
- Diskussion wird nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern selbst moderiert („Ping-Pong-Regel“).
- Ziel ist nicht die „richtige Lösung“, sondern das Trainieren moralischen Denkens.
- Abschließen der Diskussion mit einer Evaluation (was hat gefallen/ nicht gefallen, was wurde gelernt)
Voraussetzungen der Teilnehmenden:
- Keine Einführung/Vorbereitung
- Lehrer: gründliche Ausbildung (KMDD-Trainings- und Zertifizierugslehrgang)
- Gute und durchdachte Vorbereitung (wichtig auch die Präsentation der Geschichte zu üben)
Überprüfung der Wirksamkeit der KMDD
(S. 119–121)
Lind betont, wie essenziell die empirische Evaluation für jede pädagogische Methode ist. Die Wirksamkeit der KMDD wird kontinuierlich überprüft – sowohl durch subjektives Feedback der Teilnehmenden als auch durch objektive Methoden wie den Moralischen Kompetenz-Test (MKT).
Wichtige Aspekte dabei sind:
- Vorher-Nachher-Messungen (Pre-Post-Designs)
- Verwendung einer Kontrollgruppe, wenn Vergleichsdaten fehlen
- Nachhaltigkeit der Effekte durch spätere Erhebungen
Er warnt davor, fehlende Effekte vorschnell als Scheitern zu deuten – mögliche Gründe dafür können sein:
- Ungeeignetes Dilemma für die Zielgruppe
- Unzureichende methodische Umsetzung oder Vorbereitung
- Beobachtungsfehler (z. B. durch ungeschulte Evaluatoren)
Erwartbare Wirkungen & Zielsetzung (S. 121–123)
- Nach Linds Erfahrung bringt eine gut durchgeführte KMDD-Sitzung 3–6 C-Punkte Zuwachs im MKT.
- Bei umfassender Umsetzung in Seminaren: 7–15 C-Punkte möglich.
- Ein realistisches, sinnvolles Ziel ist ein Mindestwert von C = 20, auch wenn der Maximalwert theoretisch bei 100 liegt.
Er betont: Schon dieser „bescheidene“ C-Wert wäre gesellschaftlich hochwirksam, weil Menschen mit dieser Kompetenz Konflikte gewaltfrei und prinzipiengeleitet lösen könnten.
Instrumente zur Selbstevaluation (S. 123–124)
Lind stellt mehrere Evaluationsinstrumente vor:
- Beobachtungsbogen zur Strukturierung der Beobachtung von KMDD-Sitzungen
- Stundenbericht, z. B. für Lehramtsanwärter*innen
- Moralische Atmosphäre-Fragebogen (MAF): misst u. a. Gerechtigkeit, Partizipation und pädagogisches Klima
- Empfehlung, auch Besucher aktiv mit Beobachtungsaufgaben einzubeziehen
Die Just Community-Methode (JC) – Vergleich und Ergänzung (S. 124–126)
Die „Just Community“ geht über die KMDD hinaus und integriert moralisch-demokratisches Lernen in den Schulalltag. Hier werden reale Probleme von echten Personen in der Vollversammlung diskutiert und Entscheidungen verbindlich getroffen.
Zentrale Prinzipien der JC-Methode:
- Authentische Kommunikation & Meinungsbildung
- Argumentativer Diskurs und Verantwortung
- Gelebte Demokratie im Schulalltag
- Balance zwischen individueller Autonomie und Gemeinschaft
Sie basiert auf einer interaktionistischen Anthropologie: Entwicklung geschieht durch aktive Auseinandersetzung mit realen Herausforderungen – nicht durch bloße Instruktion oder Abschottung.
Die Just-Community Methode
Auf Seite 126 beschreibt Lind, wie eine Just Community konkret in der Schule organisiert und aufgebaut werden kann. Im Zentrum steht dabei die sogenannte Vollversammlung, in der sowohl Schülerinnen als auch Lehrkräfte gleichberechtigt mit je einer Stimme abstimmen. Diese Versammlung ist das zentrale Forum demokratischer Aushandlung und wird von einem gewählten Moderatorenteam geleitet – bestehend aus Schülerinnen und Lehrkräften. Ihre Qualität und Wirkung hängt stark von der vorbereitenden Arbeit in den Klassen und von den Vorbereitungssitzungen eines Organisationsteams ab.
In diesen Vorbereitungen werden Themenvorschläge gesammelt, diskutiert und so aufbereitet, dass sie für die Vollversammlung konstruktiv und lösungsorientiert bearbeitbar sind. Die Schüler*innen, die ein Anliegen einbringen möchten, erhalten Zeit und Unterstützung, um ihre Argumente vorzubereiten. Eine besondere Rolle spielt zudem ein Vermittlungsausschuss, der zwischen den Vollversammlungen regelmäßig tagt. Er achtet darauf, dass die dort getroffenen Beschlüsse im Schulalltag tatsächlich umgesetzt werden – vergleichbar mit einer demokratisch legitimierten Exekutive.
Lind betont auch, dass die Lehrerinnen im Hintergrund eine tragende Rolle spielen. Sie schaffen den notwendigen Freiraum und die Rahmenbedingungen, damit die Schülerinnen echte demokratische Erfahrungen machen können. Dieser Freiraum darf nicht zufällig entstehen, sondern muss pädagogisch geplant, begleitet und reflektiert werden. Lehrer*innen sind dabei selbst Lernende, da die Dynamik der Just Community auch sie zu kontinuierlicher Weiterentwicklung herausfordert – etwa durch Supervision, Fortbildung oder wissenschaftliche Begleitung.
Insgesamt verfolgt die Just Community das Ziel, dass Schüler*innen Demokratie nicht nur als System, sondern als gelebte Erfahrung begreifen. Es geht darum, durch echte Mitwirkung moralische Prinzipien wie Gerechtigkeit, gegenseitigen Respekt und Verantwortung im sozialen Miteinander zu verankern. Lind verweist auf die Bildungsdiskussion seiner Zeit, die ebenfalls fordert, Lerninhalte stärker an praktischen Erfahrungen zu orientieren – was die Just Community in idealer Weise leistet. Sie geht davon aus, dass moralisches Denken und Handeln nicht durch Belehrung, sondern durch aktive Auseinandersetzung mit Regeln, Normen und realen Entscheidungen entsteht.
Vergleich beider Methoden ...
Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) und die Just Community-Methode (JC) verfolgen beide das Ziel, moralische und demokratische Kompetenzen zu fördern – tun dies jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Die KMDD konzentriert sich auf die individuelle Förderung der Moralkompetenz durch das strukturierte Nachdenken und Diskutieren moralischer Dilemmata. Dabei stehen sogenannte semi-reale Geschichten im Zentrum: fiktive Situationen, die reale moralische Konflikte widerspiegeln, aber keine konkreten Personen betreffen. Die Teilnehmenden diskutieren diese Fälle in einem geschützten Raum, ohne dass ihre Entscheidungen reale Konsequenzen haben. Die Reflexion über eigene Werte und Argumente sowie das argumentative Auseinandersetzen mit gegenteiligen Meinungen stehen im Mittelpunkt. Die Diskussion wird nicht von der Lehrkraft moderiert, sondern von den Teilnehmenden selbst gesteuert – etwa durch die sogenannte Pingpong-Regel. Die Lehrperson übernimmt eine begleitende, aber zurückhaltende Rolle.
Im Gegensatz dazu richtet sich die Just Community-Methode stärker auf die institutionelle Ebene des schulischen Zusammenlebens. Hier geht es darum, reale Konflikte und konkrete Probleme im Schulalltag gemeinsam zu diskutieren und demokratisch zu lösen. Die Entscheidungen, die etwa in einer Schülervollversammlung getroffen werden, sind verbindlich und betreffen reale Personen. Ziel ist es, Schülerinnen und Schüler aktiv an der Gestaltung ihrer Schule zu beteiligen und dabei ein tiefes Verständnis für Gerechtigkeit, Verantwortung und Mitbestimmung zu entwickeln. Während bei der KMDD die emotionale Beteiligung durch fiktive Distanz kontrolliert wird, sind die Jugendlichen in der JC-Methode oft direkt betroffen – was das Engagement intensiviert, aber auch höhere Anforderungen an Struktur und Moderation stellt.
Die KMDD eignet sich besonders gut für den Einsatz im Fachunterricht, etwa zur thematischen Vertiefung ethischer Fragestellungen, während die JC-Methode strukturell in das Schulleben eingebettet ist und eine längerfristige Verankerung in der Schulkultur verlangt. Beide Methoden basieren auf dem Prinzip der Autonomie und nehmen Jugendliche ernst – als moralisch denkende und handlungsfähige Menschen. Sie sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich ideal: Die KMDD stärkt das individuelle moralische Urteilsvermögen, die JC-Methode fördert die praktische Umsetzung dieser Urteilsfähigkeit im demokratischen Alltag einer Gemeinschaft.
Wesentlich im Hinblick auf die Werteerziehung in der Schule...
Beutelsbacher Konsens
Der Beutelsbacher Konsens wurde 1976 formuliert und legt bis heute die zentralen Leitlinien für die politische Bildung in Deutschland fest. Er besteht aus drei Grundprinzipien:
-
Überwältigungsverbot
Lernende dürfen nicht indoktriniert oder zum Übernehmen einer bestimmten Meinung gedrängt werden. Die politische Bildung soll zur eigenständigen Urteilsbildung befähigen.
Wichtig: Dieses Prinzip gilt nicht uneingeschränkt für verfassungsfeindliche oder demokratiegefährdende Positionen. Haltungen, die die Menschenwürde oder zentrale Werte des Grundgesetzes (wie Gleichberechtigung, Schutz von Minderheiten etc.) verletzen – etwa rechtsextreme Positionen oder die Ideologie der AfD –, dürfen und müssen als problematisch bzw. gefährlich eingeordnet werden. Politische Bildung darf hier klar Stellung beziehen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. -
Kontroversitätsgebot
Themen, die in Wissenschaft oder Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, müssen auch im Unterricht plural und differenziert dargestellt werden. Es geht darum, verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen – im Rahmen demokratischer Grundwerte. -
Schülerorientierung
Die politische Bildung soll junge Menschen in die Lage versetzen, ihre eigenen Interessen zu erkennen, politische Prozesse zu verstehen und aktiv an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben.
Der Beutelsbacher Konsens schützt also einerseits vor politischer Beeinflussung, fordert aber andererseits eine klare Haltung gegen antidemokratische Tendenzen – im Sinne des Grundgesetzes und der Menschenrechte.