Frost, U. (2010). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. In K. Zierer (Hg.), Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik: Leben - Werk - Wirken (S. 102–114). Schöningh.

Wer war Friedrich Schleiermacher?


Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) war ein bedeutender Theologe, Philosoph und Mitbegründer der Berliner Universität. Er stammte aus einer Pfarrersfamilie und wandte sich zunächst gegen die theologische Tradition seines Elternhauses, bevor er sich später doch der Theologie widmete – allerdings auf neue, kritisch-philosophische Weise. Schleiermacher wird – gemeinsam mit Herbart – als einer der Begründer der modernen wissenschaftlichen Pädagogik angesehen.

(Frost, 2010, S. 102-103)

Was ist das Besondere an Schleiermachers Denken?


Schleiermacher wollte Bildung nicht auf berufliche Ausbildung reduzieren. Er setzte sich dafür ein, dass Universitäten nicht bloß Spezialwissen vermitteln, sondern Menschen zur freien Selbstbestimmung und Weltgestaltung befähigen. In seiner Programmschrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“ (1808) forderte er, dass der Staat die Wissenschaft unterstützen, aber nicht inhaltlich steuern dürfe.
Er verstand Wissenschaft als ein inhaltlich unabhängiges Projekt, das sich aus der Autonomie des Denkens speist. Seine Vision war die Verbindung aller Wissenschaften durch philosophische Reflexion, um isoliertes Spezialwissen zu vermeiden.

(Frost, 2010, S. 103)

Was ist sein Wissenschaftsverständnis?


Im Zentrum steht die Dialektik, die Schleiermacher als Theorie des wissenschaftlichen Gesprächs versteht. Sie soll den Diskurs zwischen verschiedenen Perspektiven so ermöglichen, dass eine Einheit des Wissens – als historisch-kulturelle Wahrheit – angestrebt werden kann, auch wenn diese nie ganz erreicht wird. Wahrheit ist also nicht einfach gegeben, sondern ein Ziel des gemeinsamen Denkens.
Sein System der Wissenschaften beginnt mit Physik (als Natur- und Naturphilosophie) und Ethik (als Geistes- und Kulturwissenschaft). Beide Bereiche sollen Theorie und Empirie vereinen.

(Frost, 2010, S.103)

Was bedeutet „Realidealismus“ bei Schleiermacher?


Schleiermacher wurde von Schellings Identitätsphilosophie beeinflusst, grenzte sich aber ab: Er glaubte nicht an eine erfassbare absolute Einheit von Geist und Natur. Stattdessen sprach er von verschiedenen Zugängen zur Einheit – über den Verstand (als regulative Idee) und das religiöse Gefühl (als symbolische Vorstellung von Gott).
Diese Einheit bleibt ein Zielpunkt in der Geschichte. Daraus ergibt sich ein offenes Wissenschaftssystem, das auf Verständigung und Einheit in Pluralität setzt – eine Grundidee seines Denkens.

(Frost, 2010, S. 104-105)

Was ist das Ziel seiner Ethik?


Ethik bedeutet bei Schleiermacher nicht einfach das Aufstellen von Regeln, sondern die Analyse von wirklichem Handeln – besonders im Sinne einer Humanisierung der Welt. Dabei greift er auf die antike Güterlehre zurück: Kulturelle Einrichtungen wie Wissenschaft, Religion, Staat oder Freundschaft gelten als ethische Güter, wenn sie Freiheit und Menschlichkeit fördern.
Diese Güter müssen jedoch immer wieder kritisch überprüft werden, da sie auch pervertiert werden können, wenn sie nicht zur Humanität beitragen. Schleiermacher unterscheidet vier ethische Sphären:

  • identisches Organisieren (z. B. Staat),

  • individuelles Organisieren (Privatleben, Freundschaft),

  • identisches Symbolisieren (Wissenschaft, Sprache),

  • individuelles Symbolisieren (Religion, Kunst).

(Frost, 2010, S.105-106)

Wie versteht Schleiermacher Pädagogik?


Pädagogik ist für ihn ein Teilgebiet der Ethik, gleichrangig mit der Politik. Sie besitzt eine eigene Würde („Dignität“), weil Erziehung ein grundlegendes gesellschaftlich-kulturelles Phänomen ist. Schleiermacher versteht Pädagogik als Theorie der Praxis für die Praxis.
Erziehung existiert immer schon und bringt eigene Vorstellungen von Mensch, Ziel und Handlung mit sich. Die Aufgabe der Pädagogik ist es, diese Vorstellungen zu klären und kritisch zu reflektieren, um sinnvollere und wirksamere Erziehung zu ermöglichen.

(Frost, 2010, S. 105)

Was sind die drei Dimensionen seiner Pädagogik?


In seiner reifsten Vorlesung von 1826 entfaltet Schleiermacher Pädagogik in drei Dimensionen:

  1. Systematische Grundlagen pädagogischer Theorie,

  2. Handlungstheorie, die daraus abgeleitet wird,

  3. Konkrete Konsequenzen für Bildungsstufen und Institutionen.
    Erziehung soll nicht auf das Verhältnis Erzieher–Zögling reduziert werden. Sie ist ein gesellschaftliches Generationenverhältnis: Was will die ältere Generation mit der jüngeren? Wie formt sie Zukunft?

(Frost, 2010, S. 105)

Was bedeutet das Generationenverhältnis?


Erziehung betrifft das Verhältnis der älteren Generation(en) zu den Heranwachsenden. Dabei geht es um mehr als nur um Eltern oder Lehrer. Die ganze Gesellschaft trägt Verantwortung.
Erziehung muss sich fragen: Was wird von der älteren Generation weitergegeben? Und was soll die jüngere damit tun?
Dabei ist wichtig: Kinder sind von Anfang an eigenständige Subjekte. Sie haben eine innere Entwicklungskraft, brauchen aber auch Impulse von außen. Erziehung ist also Selbsttätigkeit und Gemeinschaftseinwirkung zugleich.

(Frost, 2010, S. 106–108)

Was ist die doppelte Zielsetzung der Erziehung?


Schleiermacher fordert zwei gleichwertige Ziele:

  • Universelle Erziehung: Die Jugend soll fähig werden, Verantwortung in Staat, Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft zu übernehmen.

  • Individuelle Erziehung: Jeder Mensch soll in seiner Einzigartigkeit gefördert werden.
    Diese Ziele können in Konflikt geraten, aber gerade im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Entfaltung entsteht echte Bildung.

(Frost, 2010, S. 109-110)

Welche Rolle spielt die Politik?


Pädagogik und Politik sind wechselseitig aufeinander angewiesen:

  • Politik schafft die Rahmenbedingungen für Bildung,

  • Erziehung befähigt zur politischen Mündigkeit.
    Im Idealfall stimmen pädagogische und politische Ziele überein. Wenn Politik jedoch unsittlich wird, muss Erziehung dagegenhalten – sie darf nicht bloß Bestehendes reproduzieren.

(Frost, 2010, S. 111-112)

Welche Formen des Erziehungshandelns unterscheidet Schleiermacher?


  • Verhüten: Schutz vor schädlichen Einflüssen.
  • Entgegenwirken: Eingreifen bei schädlichem Verhalten – nicht mit Strafen, sondern durch Aufzeigen von Alternativen.

  • Unterstützen: Die wichtigste Form! Kinder in ihrer freien Selbsttätigkeit fördern.
    Dabei ist entscheidend: Fertigkeiten können vermittelt werden – aber Gesinnung (Haltung, Einstellung) entsteht nur indirekt – durch Vorbilder, Gespräche und Gemeinschaft.

(Frost, 2010, S.112-113)

Was ist Schleiermachers Hauptanliegen?


Erziehung muss sich ethisch legitimieren: Sie darf Kinder nicht zu bloßen Objekten gesellschaftlicher Interessen machen. Die ältere Generation trägt Verantwortung – nicht nur für ihre eigenen Ziele, sondern für die Welt, in die sie Kinder hineinwachsen lässt.
Deshalb fordert Schleiermacher eine kritische Prüfung der Erziehung: Was wurde erreicht? Warum? Wie wurde erzogen? Nur durch Verbindung von Theorie, Praxis und Zeitdiagnose kann verantwortliche Erziehung gelingen.

(Frost, 2010, S. 113-114)

Benner, D. & Kemper, H. (2003). Theorie und Geschichte der Reformpädagogik (1. Aufl.). UTB. Pädagogik Erziehungswissenschaft Bd. 8239. Beltz. S. 272-286

Schleiermachers neues Verständnis des Generationenverhältnisses (S. 272–275)

Kernaussage: Schleiermacher bricht mit der traditionellen Vorstellung, dass Erwachsene genau wissen, was Kinder einmal werden sollen. Stattdessen betont er: Erwachsene sollen die „offene Bildsamkeit“ und Lernfähigkeit von Kindern anerkennen.

Schleiermacher (1826) stellt die Frage: „Was will die ältere Generation mit der jüngeren?“ – Eine Frage, die künftig immer wieder neu und gemeinsam beantwortet werden muss (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 273).

 

Erziehung wird zu einem Dialog zwischen den Generationen. Es geht nicht mehr um ein Weitergeben festgelegter Antworten, sondern um gemeinsames Nachdenken über Entwicklungsmöglichkeiten.

 

Kant hierzu: Erziehung ist „das schwerste Problem“, weil sie sowohl von Einsicht abhängt als auch Einsicht hervorbringen soll (Kant zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 275).

Dialektik von Tradieren und Verändern – gesellschaftliche Seite der Erziehung (S. 275–280)

Kernaussage: Schleiermacher behandelt das Spannungsfeld zwischen der Erhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse („Bewahren“) und deren Weiterentwicklung („Verbessern“). In vormodernen Gesellschaften war Erziehung auf das Einführen in eine bestehende Ordnung ausgelegt – heute reicht das nicht mehr aus.

 

„Sagen wir, die Erziehung soll die heranwachsende Jugend so ausbilden, dass sie tüchtig ist und geeignet für den Staat, wie er eben ist: so würde dadurch nichts anderes geleistet werden als dieses, die Unvollkommenheit würde verewigt und durchaus keine Verbesserung herbeigeführt werden“ (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 279-280).

 

Schleiermacher warnt also ausdrücklich davor, dass eine rein anpassende Erziehung bestehende gesellschaftliche Mängel einfach fortschreibt.

Im weiteren Verlauf formuliert er eine neue Zielsetzung für die Pädagogik:

„So wollen wir also die Formel stellen: Die Erziehung soll so eingerichtet werden, dass beides in möglichster Zusammenstimmung sei, dass die Jugend tüchtig werde, einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen“ (Schleiermacher zit. nach Benner & Kemper, 2003, S. 280).

Bedeutung: Die Jugend soll nicht bloß angepasst, sondern auch veränderungskompetent erzogen werden. Es geht um eine Balance: Bewahrung sinnvoller Strukturen und aktive Mitgestaltung von notwendigen Veränderungen.

Dialektik von Unterstützen und Gegenwirken – individuelle Seite der Erziehung (S. 280–284)

Kernaussage: Schleiermacher unterscheidet zwei pädagogische Handlungsformen:

  • Unterstützen: Förderung des Guten, der Selbstentfaltung.

  • Gegenwirken: Verhinderung oder Korrektur von Fehlentwicklungen.

Er analysiert verschiedene „Modelle“ für die Verteilung dieser Handlungen auf zwei Erziehungsbereiche:

  1. Individuelle Entfaltung (z.B. Persönlichkeit)

  2. Vorbereitung auf gesellschaftliche Rollen (z.B. Bürger, Beruf)

 

Fazit Schleiermachers (Benner & Kemper, 2003, S. 284):

  • Für die individuelle Entwicklung: nur Unterstützung nötig.

  • Für die gesellschaftliche Vorbereitung: beides nötig, besonders aber Gegenwirken gegen störende Einflüsse.

Ziel: Neue Balance zwischen Individuum und Gesellschaft (S. 285–286)

Schleiermacher glaubt, dass Erziehung letztlich zur Integration in eine sittliche Gesellschaft führen kann. In einer idealen Gesellschaft, so hofft er, würde Erziehung ganz „in der Sitte aufgehen“ – also ohne äußere Eingriffe funktionieren.

Aber: Die Autoren (Benner & Kemper) bewerten diese Hoffnung kritisch. Moderne Gesellschaften sind komplex, widersprüchlich, nicht durch eine einheitliche Sitte geregelt. Deshalb bleibt Schleiermachers Dialektik von Unterstützen und Gegenwirken wichtig – auch wenn seine Vorstellung von Harmonie heute unrealistisch erscheint.